(Bild: Emilija Knezevic via Wikimedia)
Seit Monaten bebt Serbien. Immer mehr Menschen gehen auf die Strassen – ange-
führt von Studierenden, die genug haben von einem Staat, der ihnen keine Zukunft bietet. Was im Herbst 2024 nach dem Einsturz der Bahnhofsüberdachung in Novi Sad begann – einer Katastrophe mit 16 Toten – hat sich zu einer breiten Protestbewegung gegen das System von Präsident Aleksandar Vučić entwickelt.
Für viele Studierende ist der Einsturz ein Symbol für Korruption und Macht- missbrauch. Die Tragödie sei kein Unfall gewesen, sondern das Resultat jahrelanger Vetternwirtschaft und fehlender Kontrolle. Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist erschüttert. In Belgrad, Novi Sad, Niš, Kragujevac und Dutzenden weiteren Städten demonstrieren Menschen täglich für Gerechtigkeit und gegen eine politische Elite, die sie als abgehoben und unantastbar empfinden. Sie fordern:
- Vollständige Offenlegung aller Bauunterlagen, Verantwortlichen und Zuwendungen rund um die Vordachkonstruktion in Novi Sad.
- Unabhängige, echte Gerichtsverfahren statt Willkür und Schutzmacht für Privilegierte.
- Rücktritt oder Ablösung der Verantwortlichen im Staatsapparat, die jahrzehntelang ein System von Gefälligkeiten und Intransparenz aufrechterhalten haben.
- Freie Hochschulen, freie Presse und ein Staat, der Proteste nicht mit
Gewalt beantwortet.
Die Regierung reagiert mit Härte: Festnahmen, Druck auf kritische Medien, Diffamierungen. Vučić spricht von «ausländischen Einflussagenten». Doch die Bewegung lässt sich nicht einschüchtern – sein Wort hat längst an Glaubwürdigkeit
verloren.
An den Universitäten bilden sich Solidaritätskomitees, Vorlesungen werden boykottiert, Dozierende schliessen sich an. «Wenn ein Dach einstürzt, stürzt auch das Vertrauen ein», sagt ein Student der Universität Belgrad. Die zentrale Forderung bleibt: Transparenz bei allen staatlichen Bauprojekten.
Auch international finden die Proteste Beachtung. EU-Vertreter:innen rufen zur Deeskalation auf, während die serbische Regierung jede Kritik als Einmischung abtut. Doch viele Beobachter sehen in der jungen Generation die einzige echte Opposition im Land.
In den letzten Monaten kam es fast wöchentlich zu neuen Kundgebungen. Besonders nach den Verhaftungen von Aktivist:innen und Enthüllungen über Korruption wuchs der Widerstand erneut. Auf Plakaten steht: «Ne pravdi, ne miru»
– Kein Frieden ohne Gerechtigkeit. Der Protest ist längst mehr als eine
Reaktion auf einzelne Skandale. Er ist Ausdruck eines tiefen gesellschaftlichen
Wandels. Die Menschen – allen voran die Studierenden – wollen ein Serbien, in dem Gesetze für alle gelten, Medien frei berichten dürfen und die Jugend nicht auswandern muss, um Perspektiven zu finden.
Vučićs Regierung steht unter Druck. Doch anstatt auf die Forderungen des Volkes einzugehen, setzt sie auf Kontrolle, Angst und Ablenkung. Die Bewegung aber wächst weiter: Jede Festnahme, jede Diffamierung stärkt ihren Zusammenhalt.
Der Zorn auf den Strassen ist zum Spiegel eines ganzen Landes geworden – eines Landes, das sich zwischen Autoritarismus und Demokratie entscheiden muss. Und diesmal scheint die Jugend fest entschlossen, nicht mehr zurückzuweichen.
Dieser Beitrag erschien im AL-Info 5/25, S. 8.
Siehe auch die Resolution der AL – Alternativna lista iz Ciriha je sa vama