
Seit 2021 wird im Gemeinderat über eine Tarifsenkung des öffentlichen Verkehrs in der Stadt Zürich verhandelt. 2024 reichten SP und Umverkehr eine Initiative ein, die alle Personen der Stadt Zürich von den Senkungen profitieren lassen würde. Sie verlangt eine Tarifsenkung des Jahresabos für Erwachsene von 809.- auf neu 365.-. Für Jugendliche würde sich der Tarif von 343.- auf 185.- reduzieren. Der daraufhin eingereichte Gegenvorschlag der AL-Fraktion wurde abgewiesen. Er hätte richtigerweise nur Personen berücksichtigt, die über ein schmales Portemonnaie verfügen.
Nun stehen wir also vor der Entscheidung, der taktisch clevere lancierten Initiative der SP (bald sind Wahlen!), zuzustimmen, abzulehnen oder uns der Stimme zu enthalten. Die Vollversammlung hat sich nach einer engagierten Diskussion für Stimmfreigabe entschieden.
Nun, ich kann viele Argumente gegen die Initiative nachvollziehen, hauptsächlich die «finanzpolitische Fessel», die über viele Jahre die Stadt im Griff haben wird. Wir reden hier von 140 – 180 Millionen jährlich, die uns diese Tarifsenkung kosten würde.
Aber halt: die Jahresabos sind teuer! Für Personen mit geringem Lohn, kleiner Rente oder Anspruch auf Ergänzungsleistungen sind die Preise einschneidend. Lernende, Studierende, wie auch Familien mit Kindern ab 6 Jahren haben oft das Nachsehen. Nicht alle fahren Velo. Oerlikon – Bellevue zu Fuss? Oder dann doch lieber die Kinder mit dem Auto ins Training fahren? Nicht wenige benutzen deshalb Bus und Tram ohne gültiges Billett. Die Bussen sind happig. Es kann sogar eine Strafanzeige drohen. Wenn die Bussen nicht bezahlt werden (können), droht eine Ersatzfreiheitsstrafe. Das trifft hauptsächlich Menschen, die schon genug andere Probleme zu bewältigen haben. Wir reden hier von Service Public! Alle sollen den ÖV benutzen können, egal wie voll das Portemonnaie ist.
Isabel Maiorano
Die Initiative fordert ein Jahresabo für die städtische Zone 110 zum Einheitspreis von 365 Franken für alle Erwachsenen mit Wohnsitz in Zürich. Die SP und Umverkehr verfolgen damit zwei Ziele: die Förderung des öffentlichen Verkehrs und die finanzielle Entlastung der Bevölkerung. Beide Anliegen sind grundsätzlich unterstützenswert – die vorgeschlagene Umsetzung wirft jedoch gewichtige Fragen auf.
Erstens: Die Initiative ist sozialpolitisch wenig treffsicher. Sie entlastet alle gleichermassen – unabhängig von Einkommen oder Mobilitätsverhalten. Wer sich heute problemlos ein reguläres Abo leisten kann oder hauptsächlich zu Fuss oder mit dem Velo unterwegs ist, würde gleich stark profitieren wie jene, für die die aktuellen Preise eine reale Hürde darstellen. Dass auch Gutverdienende entlastet würden, gleicht sich durch Steuern, wie die SP argumentiert, nur bedingt aus – denn die reale Steuerprogression wird durch zahlreiche legale Umgehungsmöglichkeiten deutlich abgeschwächt.
Zweitens: Die finanzielle Tragweite ist erheblich. Der Stadtrat rechnet mit Kosten von bis zu 140 Millionen Franken jährlich – über Jahrzehnte. Diese Mittel würden an anderer Stelle fehlen, etwa für wirksame Massnahmen gegen die Verdrängung einkommensschwacher Haushalte oder für gezielte ÖV-Vergünstigungen, die auch Personen ausserhalb der Stadt Zürich berücksichtigen.
Drittens: Die ökologische Wirkung ist unklar. Eine spürbare Verlagerung vom motorisierten Individualverkehr zum ÖV ist nicht zu erwarten – der Rabatt ist für viele zu gering, um einen echten Anreiz darzustellen. Stattdessen droht eine Verlagerung von Fuss- und Veloverkehr hin zum ÖV, wodurch der ökologische Mehrwert verpuffen könnte.
Die AL hat sich im Gemeinderat für einen gezielten Gegenvorschlag eingesetzt: mit einkommensabhängigen Abos auch für junge Erwachsene bis 25 Jahre sowie mit einer räumlichen Ausweitung auf die eng mit Zürich verflochtene Agglomeration. Parallel fordern wir im Kantonsrat ein einkommensabhängiges Tarifsystem für den gesamten Verkehrsverbund. So liessen sich Entlastung und ÖV-Förderung zielgerichteter und umfassender gestalten.
Michael Schmid
Die Initiative im Wortlaut:
