
Unter „Kremlinologie“ verstand man im Kalten Krieg den Versuch, die intransparente Organisation der sowjetischen Führung durch die Interpretation indirekter Hinweise zu verstehen. Anhand kommunistischer Alltagspetitessen sollten die obskuren Entscheidungswege des Zentralkomitees nachvollzogen werden können. Die Kremlinologie verschwand mit der Sowjetunion. Marx erinnert uns aber daran, dass die Geschichte sich immer zweimal wiederholt: Zuerst als Tragödie und dann als Farce.
Seit Trumps Rückkehr ins Weisse Haus vergeht kaum eine Stunde, in der nicht ein:e Politwissenschaftler:in versucht, die widersprüchlichen Handlungen der neuen Kreml-Dependance in Washington mittels alter und neuer Konzepte zu dechiffrieren. Auch wenn die „Trumputinologie“ komischer wirkt als ihre Vorgängerin, so wohnt ihr doch nach wie vor die für Europäer:innen beruhigende Hoffnung inne, die von Trump und Putin geteilte Ideologie und Methodik liesse sich zumindest symbolisch deuten und rational verstehen.
Dabei wissen wir längst: Die politischen Imperative in Washington und Moskau basieren auf demselben Prinzip – dem Chaosprinzip. Putins Wille zur Anarchie zeigt sich autokratisch und kriegerisch, Trump verwirrt alle mit seiner permanenten Überflutung des politischen Raums mit mittel- bis tiefbraunem Unrat. Beide dominieren seit Jahren die politische wie die mediale Aufmerksamkeitsökonomie in West- und Osteuropa. Gefangen in clickbait-getriebenen Zyklen, fehlen Medien und Parteien die Ressourcen, sich dem trumputinistischen Sog zu entziehen.
Die durch das Chaos gesteuerte Dringlichkeit versperrt nicht nur den Blick auf jenen Hintergrund, wo die wichtige Musik spielt, sondern dient sowohl Trump als auch Putin als Camouflage gegen Angriffe – von links wie rechts. Zeitgleich lähmt diese politische und mediale Hyperventilation die Bevölkerung in mehrfacher Hinsicht. Die ständige Konfrontation mit negativen Botschaften führt zum einen zum Aufbau einer emotionalen Distanz zu den Geschehnissen. Zum anderen ist es leider so, dass viele der Geschichten der durchs mediale Dorf gejagten Säue kein journalistisches Ende finden – vorher platzt bereits die nächste Rauchbombe. Diese Unfertigkeit erlaubt es wiederum den beteiligten Politiker:innen ihre wenigen, stark emotionalisierten Botschaften praktisch unendlich zu wiederholen, wodurch deren Wirkmächtigkeit verstärkt und die Bevölkerungslähmung potenziert wird.
In diesem Sinne versteht es der Trumputinismus, die zentrale politische Verbindung zwischen Aktion und Reaktion auszulöschen. Trump suggeriert den Bürger:innen, dass sie angesichts einer hyperventilierenden „Classe Politique“, die nichts zu Ende bringt und – wie seine eigene Biografie bestens zeigt – eh nichts zu befürchten hat, beherzt ihre politische Aufsichtsfunktion vernachlässigen und ohne Furcht vor Konsequenzen mit dem Bauch anstatt dem Kopf abstimmen dürfen. Ein gefährliches populistisches Perpetuum mobile.
Was tun? fragte Lenin einst. Die Lösung liegt – wie so häufig – in unserem Alltag. Wir alle sind aufgerufen, unseren eigenen hyperventilierenden Lähmungszustand zu überwinden. Indem wir überall und zu jeder Zeit demonstrativ klar Kante zeigen gegen jene, die den Flur mit braunem Mist fluten. Es ist immens wichtig, dass wir unsere Sprachlosigkeit hinter uns lassen!
Das heisst umgekehrt jedoch nicht, dass politische Organisationen in dieser Situation keine Verantwortung tragen. Die Wahlen in Österreich und Deutschland haben gezeigt, dass das beste Antidot gegen die korrumpierenden Entwürfe von Parteien aus der Trump- und Putinsphäre im Ausbau sozialer und ökologischer Gerechtigkeit besteht. Diesen internationalen, solidarischen linkslinken Ansatz wollen Vertreter:innen der AL, der KPÖ und von Die Linke am 1.Mai-Fest vertiefen. Kommt vorbei! Es ist Zeit dem Trumputinismus gefährlich zu werden!
Der Text erscheint auch im P.S. als Kolumne “Meh Biss”.
Veranstaltungshinweis: Podium “Wie Phoenix aus der Asche”, Samstag 3. Mai, 14:45 – 16:15 Uhr, Walcheturm, Zürich: Vinzenz Glaser (Die Linke, Deutscher Bundestag), Norbert Hackbusch (Die Linke, Bürgerschaft Hamburg) und Jakob Hundsbichler (KPÖ, Gemeinderat Innsbruck) diskutieren mit den AL-Gemeinderätinnen Tanja Maag und Sophie Blaser über das linkslinke Revival im deutschsprachigen Raum. Siehe auch hier.