
Für Philippe Wampfler käme die Abschaffung des Langzeitgymnasiums einem Befreiungsschlag gleich (Bild: Marc Renaud)
Die AL hat im Zürcher Kantonsrat Vorstoss eingereicht, der die Abschaffung des Langzeitgymnasiums fordert. Philippe Wampfler ist Lehrer, Fachdidaktiker, Kulturwissenschaftler und Experte für Lernen und Digitalität. Wir haben mit ihm über das schweizerische Bildungssystem, die Selektion nach der sechsten Klasse und mögliche Konsequenzen einer Abschaffung des Langzeitgymnasiums gesprochen.
Philippe, du befasst Dich intensiv mit dem Bildungssystem der Schweiz. Wie beurteilst du dieses insgesamt?
Bildung hat in der Schweiz einen hohen Stellenwert, auch was die Finanzierung betrifft. Gleichzeitig gibt es einige Mythen, welche eine weitere Entwicklung behindern und Ungerechtigkeiten verstecken. Das führt zu zwei massiven Problemen: Die Schweiz schafft es erstens nicht, das erklärte Ziel von 95% Abschlüssen auf der Sekundarstufe II (also mindestens eine abgeschlossene Lehre) zu erreichen. Zweitens kann ein Viertel der Schüler:innen nach der obligatorischen Schulzeit nicht richtig lesen, kann sich also etwa nicht richtig über bedeutsame Entscheidungen informieren.
Diese Probleme hängen zusammen und werden oft ausgeblendet, indem Politiker:innen ein Loblied auf die Berufslehre singen, deren Ansprüche aber steigen, weil Berufe komplexer werden. Hier müssen in den nächsten Jahren schnell Lösungen gefunden werden, um allen Menschen den Zugang zu einem guten Leben zu ermöglichen.
Im Kanton Zürich wird nach der sechsten Klasse Volksschule eine erste Selektion vorgenommen…
…und diese Selektion produziert Verlierer:innen! Die Schule muss Kindern sagen, dass sie ihnen bestimmte Wege nicht zutraut, obwohl wir statistisch wissen, wie ungenau solche Prognosen sind. Die Volksschule sollte für alle Schüler:innen da sein. Der Kanton Zürich konstruiert mit der Gymi-Aufnahmeprüfung eine «Elite» von 15% und entwertet so die Sekundarschule. Viele engagierte, gebildete Eltern können sich nicht vorstellen, ihr Kind an eine Sek zu schicken. In vielen Gemeinden werden die Sekundarschulen schlecht geredet. Das ist alles eine Konsequenz aus dieser künstlichen Elitenbildung. Vernünftiger wäre, die Sekundarschulen mit Begabungsförderung und zusätzlichen Mitteln für Individualisierung auszustatten und sie zu einem Lernort für alle Jugendlichen zu machen. Damit könnte man den Druck auf die Kinder, der teilweise schon in der vierten Klasse einsetzt, deutlich reduzieren.
Im Zürcher Kantonsrat wird demnächst ein AL-Vorstoss verhandelt, der eine Abschaffung des Langzeitgynasiums fordert. Angenommen, der Vorstoss erhält eine Mehrheit: Wie schätzt Du die Auswirkungen auf das Bildungssystem im Kanton Zürich ein?
Das wäre ein Befreiungsschlag. Die Bevölkerung ist enorm unzufrieden mit der Aufnahmeprüfung, gerade auch Menschen mit Bildungserfahrungen aus anderen Kantonen oder Ländern verstehen nicht, wie die Selektion funktioniert. Die Politik schafft es nicht, hier Lösungen zu finden. Zudem funktionieren Langgymnasien nur halb: Sie können begabten Kindern zwar fachlich Horizonte eröffnen und sie herausfordern, gleichzeitig stecken sie sie in riesige Schulhäuser und ein Fachlehrer:innen-System, in dem sie nicht altersgemäss begleitet werden können. Die Abschaffung des Langzeitgymnasiums würde der Sek einen Schub geben, interessierte Eltern könnten in die Zusammenarbeit eingebunden werden und würden lokale Schulen stärken und zu kulturellen Zentren machen. Generell würde man Kindern mehr Zeit geben, um sich für einen Bildungs- oder Berufsweg zu entscheiden und sich zu entwickeln.
Philippe Wampfler ist Dozent für Fachdidaktik Deutsch am IFE der Universität Zürich, Lehrer für Deutsch an der Kantonsschule Uetikon, Autor und freischaffend tätig bei Schule und Social Media. https://philippe-wampfler.ch/