Stellen Sie sich ein Zürich vor, in dem öffentliche Plätze nicht länger von bunten Werbebotschaften überlagert werden. Wo wir durch die Strassen schlendern können, ohne ständig über das neuste iPhone oder die Marketingkampagne irgendeiner Krankenkasse informiert zu werden. Genau einen solchen öffentlichen Raum, frei von kommerzieller Werbung, forderte die AL-Fraktion in einer Motion. Nur noch Werbung im eigenen Schaufenster, für lokale Veranstaltungen und zur politischen Meinungsfindung sollen erlaubt sein. Beim Stadtrat hat diese Idee leider keine Begeisterung ausgelöst. Ganz im Gegenteil. Er bekämpft die Motion mit allen ihm möglichen Mittel. Er versandte sogar eine Medienmitteilung mit seinen Ablehnungsgründen, etwas das äusserst selten passiert.
Dabei ist die Idee gar nicht so radikal wie der Stadtrat behauptet. Bereits jetzt haben verschiedene grössere europäische Städte ähnliche Bestimmungen. Das bekannteste Beispiel ist wohl Grenoble. Die französische Stadt hat vor einigen Jahren ein umfassendes Werbeverbot eingeführt und sich damit erfolgreich gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums gewandt. Das Ergebnis? 98 % der Bürger*innen, die der Verwaltung Rückmeldung gegeben haben, unterstützen diesen Schritt. Warum also ist der Stadtrat gegen eine Massnahme, die wohl durchaus populär sein wird?
Die meisten Argumente des Stadtrats erscheinen mir fragwürdig. Als eines der wichtigsten Gründe bringt er die Einnahmen für die Stadtkasse vor. Diese belaufen sich in Zürich jedoch nur auf rund 20 Millionen. Bei einem Budget von weit über 10 Milliarden macht dies also nur einige Promille aus. Hauptsächlich argumentiert er aber, dass es für die «wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Zürich kontraproduktiv und nicht zielführend» sei. Damit zeigt er, um was ihm wirklich geht. Anstatt die Menschen in der Stadt vor exzessiven Werbescreens zu schützen, schützt er lieber die Interessen der Werbebranche und einiger Grosskonzerne.
Ob er mit dieser Begründung Erfolg im Gemeinderat haben wird, ist aber glücklicherweise ungewiss. Als der Gemeinderat 2015 das erste Mal aufgrund eines AL-Vorstosses über eine starke Reduktion der Werbeflächen diskutierte, wusste der Stadtrat die SP-Fraktion noch auf seiner Seite. Das Postulat wurde nur von der AL und Grünen unterstützt. Unterdessen scheint sich die Haltung der städtischen Sozialdemokratie verändert zu haben. Vor zwei Jahren überwies die linke Mehrheit im Gemeinderat die Forderung nach einem Ausbaustopp digitaler Werbeflächen an den Stadtrat. Dies ist wohl auch der Grund, warum der Stadtrat sich gezwungen sieht, schon vor der Behandlung im Parlament, öffentlich für ein Nein zu lobbyieren.
In wenigen Wochen wird sich also zeigen, ob die Stadt Zürich diesen mutigen Schritt wagen will. Für uns ist die Situation klar. Auch in Zürich soll eine werbefreie Stadt Realität werden. Die Vorteile davon sind klar. Der öffentliche Raum gehört uns allen. Wir sollten uns darin frei bewegen können, ohne ständig von Kaufanreizen bedrängt zu werden. Aber nicht nur für die direkte Lebensqualität bringt ein werbefreier Raum Vorteile. Auch für die städtischen Klimaziele wäre der Schritt begrüssenswert. Selbst der Stadtrat gibt zu, dass die immer mehr zum Einsatz kommenden elektrischen Werbeflächen viel zu viel Energie benutzen und eine markant schlechtere Ökobilanz als analoge Werbung ausweisen.
Ein Verbot kommerzieller Werbung wäre deshalb ein starkes Signal und eine klare Botschaft, dass Zürich den Mut hat, voranzugehen. Ein Zürich ohne Werbung wäre ein Gewinn für das Klima, für die Lebensqualität und für das Selbstbestimmungsrechte ihrer Menschen. Es ist an der Zeit, dass Zürich diesen Schritt wagt und der Stadtrat endlich einsieht, dass er die Bevölkerung über die Werbebranche stellen sollte.
Erschienen als Kolumne “Meh Biss!” in der P.S. vom 15.11.2024, S. 10.