(Bild: Stromgesetz Ja)
Am 9. Juni 2024 stimmen wir über die gleichzeitige Revision von vier Gesetzen (vormals “Mantelerlass”) ab. Die wichtigsten Änderungen erfahren das Stromversorgungs- und das Energiegesetz. Mit der Revision soll laut Bundesrat die “sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien sichergestellt werden”. Ist diese Revision das perfekt passende Puzzle, wie es die Befürworter:innen darstellen, oder eine kopflose Panik- Reaktion auf die Diskussion um die Versorgungssicherheit, wie die Gegner:innen behaupten?
Sichere Versorgung mit erneuerbaren Energien
Mit der Energiestrategie 2050 will die Schweiz ihr Energiesystem nachhaltig und klimafreundlich gestalten und gleichzeitig die hohe Versorgungssicherheit gewährleisten. Sie hat vier Ziele:
- den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz vorantreiben;
- die Abhängigkeit von fossilen Energien aus dem Ausland reduzieren;
- den Energieverbrauch senken;
- die Energieeffizienz erhöhen.
Um das Klimaziel des Bundesrates für 2050 zu erreichen und die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren, ist eine rasche Elektrifizierung im Verkehrs- und im Wärmesektor nötig. Daher ist ein verstärkter und rechtzeitiger Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien unumgänglich. Dies bedingt entsprechende Änderungen im Energiegesetz und im Stromversorgungsgesetz, die im vorliegenden «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» vorgenommen werden.
Solare Anbauschlacht…
Von den 2022 in der Schweiz produzierten 63.5 TWh Strom stammten gut die Hälfte aus Wasserkraft, gut ein Drittel aus AKW und die restlichen gut 11% aus erneuerbaren Quellen sowie thermischen Kraftwerken. Bis 2035 soll die Stromproduktion so umgebaut werden, dass neu je rund die Hälfte aus Wasserkraft und “anderen Erneuerbaren” (Sonne, Wind) stammt. Bis 2050 soll sogar deutlich mehr als die Hälfte aus den anderen Erneuerbaren kommen. Diese Steigerung soll über einen massiven Zubau bei der Fotovoltaik erfolgen. 2023 erzeugten gut 200‘000 inländische Fotovoltaik-Anlagen etwas mehr als 5 TWh. Um das in der Energiestrategie gesetzte Ziel von 45 TWh im Jahr 2050 zu erreichen, muss die inländische Produktionsmenge in den kommenden 25 Jahren also um das 9-fache erhöht werden. Das kommt einer veritablen Solar-Anbauschlacht gleich. Diese muss vorwiegend auf den Dächern der bestehenden Bauten stattfinden, denn dort ist das Ausbaupotenzial für Solaranlagen riesig.
…mit Risiken
Aber: Dieser monotechnologische Umbau ist äusserst riskant, sofern keine Begleitmassnahmen ergriffen werden. Risiken sind einerseits Produktionsausfälle aufgrund von unzutreffenden Wetterprognosen wie beispielsweise am 22. April dieses Jahres. Andererseits führt die Überproduktion von Solarstrom bei schönem Wetter zu Phasen mit negativen Strompreisen. Eine Studie der Elcom von 2021 stellt nüchtern fest: “Solange der Ausbau der erneuerbaren Energien weiter zunimmt und weder bei den Stromspeichermöglichkeiten grosse Fortschritte gemacht werden noch bei der Last die Flexibilität erhöht wird und die Grenzübertragungskapazitäten in die Nachbarländer nicht ausgebaut werden, dürfte sich dieser Trend fortsetzen. Negative Preise am kurzfristigen Strommarkt sind jedoch kein Grund zur Sorge. Es ist ein notwendiger Marktmechanismus, um sicherzustellen, dass die Stromnachfrage dem Angebot zu jeder Zeit entspricht.” Da davon auszugehen ist, dass der Zubau von Fotovoltaik nicht auf einen Schlag erfolgen wird, bleibt Zeit, die notwendigen Begleitmass- nahmen umzusetzen. Erforderlich ist einerseits die Schaffung von Speicherkapazitäten verschiedener Art. Andererseits braucht es intelligente Netze, die eine Flexibilisierung des Verbrauchs ermöglichen – eine Massnahme, die heikle Datenschutzfragen aufwirft.
Versorgungssicherheit im Winter…
In der Abstimmungsbroschüre wird die Revision des Stromgesetzes primär mit der Sorge um die Stromimporte in der kalten Jahreszeit begründet. Wegen Konflikten wie dem Ukrainekrieg und weil andere europäische Länder selbst mehr Strom brauchen, um fossile Energieträger zu ersetzen, könnte es zu Engpässen bei der winterlichen Stromversorgung kommen. Um die Versorgungssicherheit zu stärken, muss mehr Strom im Inland produziert werden. Einerseits legt das revidierte Energiegesetz für Stromimporte im Winterhalbjahr als Richtwert eine Obergrenze von 5 TWh fest. Zudem müssen bis 2040 die Winter-Produktionskapazitäten um 6 TWh erhöht werden, davon 2 TWh sicher abrufbar. Die Erhöhung soll in erster Linie mit Speicherwasserkraftwerken sowie mit Solar- und Windkraftanlagen “von nationalem Interesse” erfolgen.
…versus unberührte Natur
Für Anlagen von nationalem Interesse sollen erleichterte Planungsbedingungen gelten. Hier setzt die Kritik der Gegner:innen der Abstimmungsvorlage an. Sie sehen die Verfassungsbestimmungen zum Natur- und Landschaftsschutz verletzt und werfen den eidgenössischen Räten vor, überstürzt weitreichende Entscheide gefällt zu haben, ohne sich Gedanken über mögliche Nachteile für die Natur zu machen. Zwar halte das neue Stromgesetz beschwichtigend fest, in Biotopen von nationaler Bedeutung seien neue Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien ausgeschlossen. Doch dieser Grundsatz werde mit neuen Ausnahmen gleich wieder ausgehebelt, etwa durch den fehlenden Schutz von Gletschervorfeldern.
Anspruchsvolle Umsetzung
Die Vorlage fördert den Verbrauch von Strom nahe bei der Produktion. Dies ist insbesondere beim Solarstrom von Bedeutung, weil damit kostenintensive Netzausbauten entfallen. Die bestehenden Fördermassnahmen werden ausgebaut. Die Abnahme- und Vergütungspflicht für Strom aus erneuerbarer Produktion wird beibehalten bzw. vereinheitlicht. Dies stellt die Elektritätslieferanten vor komplexe Herausforderungen, z.B. in der Beratung von Interessent:innen und bei der transparenten, verständlichen Abrechnung der verschiedenen Modelle. Zudem formuliert der Bundesrat jährliche Zielvorgaben für Effizienzsteigerungen, welche die Elektritätslieferanten erfüllen müssen, etwa mit der Subventionierung von stromsparenden Haushaltsgeräten.
Fehlanreize bleiben
Auf der anderen Seite bleiben die Regelungen unangetastet, die dem übergeordneten Ziel “Energieverbrauch senken” potenziell entgegenwirken. Die Schweizerische Energiestiftung hat in einer kürzlich publizierten Studie nicht weniger als 112 Rechtsgrundlagen – Subventionen, Steuern, Abgaben oder Vorschriften – identifiziert, die beim Energieverbrauch Fehlanreize setzen. Allein bei sieben vertieft untersuchten Fehlanreizen beträgt das Einsparpotential 9 bis 10 TWh jährlich – dies bei einem Gesamtstromverbrauch von 63 TWh. Zwar enthält Art. 3 des revidierten Energiegesetzes Verbrauchsziele, wie stark der Energieverbrauch pro Kopf gesenkt werden soll. Allerdings wird der bisher in den Energieszenarien festgeschriebene Zielwert für den Stromverbrauch 2050 angepasst und beträgt neu minus 5 Prozent gegenüber 2000 statt wie bisher minus 18 Prozent. Diese Anpassung ist in erster Linie auf den Ausbau der Elektromobilität zurückzuführen. Aus diesem Blickwinkel erscheint der “Mantelerlass” in erster Linie als Rechtsgrundlage, mit der jeder Tropfen fossiler Brennstoff durch gleich viel Strom ersetzt werden kann. In der Abstimmungsvorlage fehlen konkrete, innovative, griffige Bestimmungen für Instrumente, welche Bevölkerung und Wirtschaft zu energiesparendem Verhalten anreizen könnten.
Ablehnung wäre Rückschritt
Bei aller Kritik an der solaren Monokultur, der Durchlöcherung des Biotopschutzes und dem mangelnden Willen zum Energiesparen: Ein Nein zu dieser Vorlage wäre ein Rückschritt. Dann würden noch mehr fossile Not-Kraftwerke gebaut und wir haben wohl Wichtigeres zu tun, als eine erneute AKW-Diskussion zu führen. Auch nach einem Ja bleibt viel zu tun. Es gilt, die Umsetzung der Gesetzesrevision für Menschen mit kleinem Portemonnaie verträglich zu gestalten und bei den weiter bestehenden Fehlanreizen eine grundlegende Systemveränderung einzuleiten.