(Bild: Tamedia)
«Auge! Auge!», schreit plötzlich jemand. Es ist der 1. Mai, die Polizei hat rund 300 vermummte Personen auf dem Kanzleiareal eingekesselt. Es fliegen Bierflaschen und Böller auf die Einsatzkräfte, die Antwort darauf ist Gummischrot, Tränengas und ein Wasserwerfer. Mittendrin im Getümmel steht ein Mann Mitte 20 und hält sich das blutende Auge.
Diese Schilderung des Tages-Anzeigers ist für Insider ein «Déjà-vu». Die Liste der Aktivist:innen, die wegen einer von Polizeiangehörigen abgeschossenen Salve Gummischrot schwere Augenverletzungen davontragen haben, ist lang. Fast immer «trifft es» Personen, die nicht in den vorderen Reihen stehen. Sie haben eine politische Haltung. Sie erwarten nicht, dass ein Projektil sie treffen könnte. Sie können sich deshalb auch nicht schützen, sich nicht abwenden. So wie der Siebdrucker 2013 an einer Tanzdemo in Bern. So wie der nach der Rückkehr aus Davos in der Zürcher Bahnhofhalle stehende Berufsschullehrer in den Nuller-Jahren. So wie die junge Frau in den 80er-Jahren, die vor dem Landesmuseum stand. Das Bild mit dem blutigen Auge hat die junge «Bewegig» erschüttert.
Wir wissen nicht, ob der junge Mann am 1. Mai 2023 das Augenlicht ganz verlieren wird – oder «nur» mit einer sehr starken Einschränkung der Sehkraft leben muss. Was wir wissen ist Folgendes:
- Die Stadtpolizei hat die sich im Kanzleiareal aufhaltenden Aktivist:innen «eingekesselt». Zwischen den Aktivist:innen und der Polizei stand Zaun und Hecke. Der Sicherheitsabstand ist gross. Die in den vordersten Reihen stehenden Beamten waren bestens ausgerüstet.
- Gemäss Doktrin der Stadtpolizei ist Gummischrot eine Distanzwaffe. Gummischrot wird eingesetzt, um direkten Körperkontakt und Schlägereien zwischen Polizei und Demonstrierenden zu vermeiden.
Was wir nicht wissen:
- Warum Polizeiangehörige mit Gummischrot auf die eingekesselten Menschen geschossen haben.
- Wie hätte es am 1. Mai 2023 zwischen den ausserhalb des Kanzleizauns stehenden Polizeibeamten und den sich im Kanzleiareal aufhaltenden Aktivist:innen zu direktem Körperkontakt kommen können?
- Wie kann der Einsatz von Gummi gerechtfertigt werden?
Fragen, zu denen die Stadtpolizei bisher keine Stellung genommen hat. Klar ist: Auf ein geschlossenes Gelände, in dem sich viele Menschen aufhalten, darf weder mit Tränengas noch mit Gummischrot geschossen werden.
Es ist die Erfahrung des 1. Mai 1996: Wegen Strassenschlachten im Umfeld des Festareals war eine sehr grosse Zahl von Menschen im Zeughausareal eingeschlossen. Sie gerieten in Panik, weil die Polizei an den Eingängen zum Zeughausareal permanent Gummischrot eingesetzt und Tränengaspetarden über die Zeughäuser ins Areal geschossen hat.
Der 1. Mai 2023 ist der erste 1. Mai, den der neue Kommandant der Stadtpolizei – Beat Oppliger – zu verantworten hat. Ist in den hektischen letzten Wochen vor dem 1. Mai 2023 dem neuen Kommandanten die Erfahrung des Jahres 1996 nicht mitgeteilt worden? Hat die Polizeiführung vergessen, die bekannten Grenzen des Einsatzes polizeilicher Mittel in den Einsatzbefehlen festzuhalten? Hat der Einsatzleiter vor Ort, der Gesamteinsatzleiter oder der Kommandant versagt? Es sind Fragen, die mit der eingeleiteten Strafuntersuchung nicht geklärt werden können. Es sind politische Fragen, die bisher nicht adressiert worden sind.
Das Ausschroten von Augen muss aufhören! Dies kann nur gelingen, wenn die Stadtpolizei glasklare Signale erhält. Im Fokus stehen die Führungspersonen, die nicht verhindert haben, dass der unverzeihliche Einsatz von Gummischrot gegen die im geschlossenen und eingekesselten Kanzleiareal stehende Menge stattfinden konnte.
Diese Personen dürfen nicht mehr zu Ordnungseinsätzen aufgeboten werden. Sie sind zu suspendieren, bis die politische Aufarbeitung abgeschlossen ist und die Richtlinien für den Einsatz polizeilicher Waffen angepasst und geschult worden sind.
2023/230 – Anfrage im Gemeinderat zu den Film- und Fotoaufnahmen von Personen
2023/231 – Anfrage im Gemeinderat zum Einsatzdispositiv der Polizei
182/2023 – Anfrage im Kantonsrat zur Beteiligung der Kantonspolizei