(Bild: Laurin Steffens / Unsplash)
Theoretisch ist alles sehr einfach. Theoretisch heisst es in der UNO-Erklärung der Menschenrechte, dass jeder Mensch das Recht auf einen Lebensstandard hat, der Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet. Theoretisch ist dieses Recht auf Gesundheit in der Schweiz durch die Bundesverfassung und durch bindende Konventionen mehrfach verbrieft. Folglich machen sich Behandelnde theoretisch strafbar, wenn sie nicht nachweisen können, dass sie angemessen – sprich: sprachlich barrierenfrei – über allfällige Interventionen aufgeklärt haben.
Die Praxis ist das komplizierter. Weder Patientinnen und Patienten noch ihre Behandelnden sind sich über die rechtliche Situation bewusst. Folglich findet praktisch häufig eine Umkehrung der Verantwortlichkeiten statt: Die medizinische Bringschuld, barrierefrei zu kommunizieren, verkommt zur Pflicht der Patientin oder des Patienten, eine Person mitzubringen, die im besten Fall die Kommunikation ermöglicht. Im schlechtesten Fall muss das medizinische Personal mit Händen und Füssen kommunizieren, was in grenzüberschreitenden bis tödlichen Situationen resultiert. Eine hinnehmbare Lösung für dieses Dilemma gibt es praktisch nur in Institutionen. Sie verfügen über die Reserven, um die Kosten der verordneten Übersetzungsleistungen zu übernehmen. Behandelnde, welche diese indizieren, gelangen jedoch mit dieser Praxis in eine gesundheitsökonomische Zwickmühle, da trotz der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit dieser Massnahmen weder Bund, Kantone noch Krankenkassen die transparente – und vor aallem definitive – Finanzierung derselben übernehmen wollen.
Im Verlauf meines Lebens bin ich mehrfach mit dieser Kluft zwischen Theorie und Praxis konfrontiert worden. Als Jugendlicher musste ich meine Eltern zu medizinischen Gesprächen begleiten und sie teilweise über schwere Diagnosen informieren. Als Konsiliarpsychiater war ich nicht nur wiederholt Zeuge von kleinen, mittleren und grösseren Katastrophen, die sich direkt aus der fehlenden Kommunikation zwischen Behandelten und Behandelnden ergaben. Ich beobachtete auch, wie die zunehmende Ökonomisierung des medizinischen Handelns dazu führte, dass manche Kolleginnen und Kollegen, um das Klinikbudget nicht zu arg zu belasten, verzweifelt nach Gründen suchten, um keine sprachlichen Vermittlungsleistungen verordnen zu müssen.
Glücklicherweise werden medizinische Institutionen nicht nur von innen, sondern auch von aussen mitgesteuert. Das gilt insbesondere für das Stadtspital Zürich, welches im direkten Dialog mit dem Parlament steht. Deshalb reichte ich, kaum im Zürcher Gemeinderat angekommen, eine Interpellation (2018) und darauf folgend eine Motion (2019) zur Behebung der Problematik der mangelnden interkulturellen Übersetzungs- und Dolmetscherdienste (IÜDD) ein. Dieser Vorstoss erzielte 2020 eine parlamentarische Mehrheit, so dass der städtische Gesundheitsvorsteher zwei Jahre Zeit erhielt, um das Pilotprojekt vorbereiten zu können.
In der Zwischenzeit ist aktuelle IÜDD-Situation am Stadtspital und in den Gesundheitszentren analysiert worden. Auf dieser Basis hat der Stadtrat vier Massnahmenpakete zur Linderung der Problematik entwickelt:
- Schaffung von strukturellen Grundlagen für einen bedarfsgerechten Einsatz von sprachlichen Vermittlungshilfen
- Schaffung einer Finanzierungsgrundlage für den Einsatz von professionellen IÜDD-Leistungen
- Testen des Einsatzes von digitalen Übersetzungshilfen
- Sensibilisierung von Mitarbeitenden hinsichtlich einer bedarfsgerechten Nutzung IÜDD
Letztes Jahr hat der Gemeinderat das Pilotprojekt und die damit verbundene Finanzierung (2,4 Millionen Franken) gutgeheissen. Nach der vierjährigen Evaluationsphase sollen die neuen Erkenntnisse in eine neue Vorlage zur langfristigen Sicherung der bewährten Massnahmen in eine neue Regelstruktur einfliessen. Max Weber prägte den Satz, dass Politik „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmass zugleich“ bedeute. Man könnte meinen, dass er damit auf den Bau dieser Brücke hindeutete, die Theorie und Praxis hinsichtlich der IÜDD endlich verbinden soll.
Dieser Artikel ist am 1. März in der Schweizerischen Ärztezeitung erschienen.