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Frankreich, Belgien und Island kennen sie. In Grossbritannien und in Schweden wurde sie erfolgreich getestet und partiell eingeführt. Deutschland spricht seit Jahren über sie und in Spanien ist die Auseinandersetzung mit ihr derart intensiv, dass sie nächstens im weltweiten grössten Versuch ausprobiert werden soll. Die Rede ist von der 35-Stunden-Woche. Eine Idee, die bis vor kurzem als Utopie verschrien und von vielen in die Schublade gescheiterter Projekte gesteckt wurde. Doch siehe da: Gerade in diesen postpandemischen und präapokalyptischen Zeiten erlebt sie, die linke Untote, ein regelrechtes Revival. Und zwar in crescendo: Ständig führen Länder, Regionen, Städte und – nicht ganz irrelevant – Privatbetriebe unterschiedlicher Grösse dieses Arbeitsmodell ein.
Komplexe, aber realistische Antwort auf die Mehrfachkrise
Die Wiederauferstehung der 35-Stunden-Woche ist allerdings kein Zufall. Studien und erste Erfahrungen in der Arbeitswelt zeigen, dass sie eine realistische Antwort auf die multiplen ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen, in der westliche Gesellschaften stecken, darstellt. Der sich beschleunigende Kollaps von immer grösseren Umweltsystemen, die damit verbundene – und sich auch im aktuellen Kriegskontext noch verschärfende – energetische Krise und die chronifizierte Erschöpfung und Gesundheitsgefährdung der Arbeiter:innenschaft zwingt uns zur Aufgabe des bisherigen Wirtschaftswachstumscredos. Dieses Mal werden uns weder digitale Effizienzsteigerungen noch die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse den Kragen retten. Nicht kurz-, nicht mittel- und nicht langfristig. Ganz im Gegenteil: Viele dieser „wohlgemeinten“ Initiativen katapultieren uns in die nächste Energieverbrauchsliga, womit sich der Höllenkreis, in dem wir stecken, schliesst.
Darum sind nun keine Pflästerchen, sondern strukturelle Eingriffe notwendig. Bisherige Erfahrungen mit der 35-Stunden-Woche zeigen, dass sie die Grundlagen schafft, damit Arbeiter:innen ihren ökologischen Fussabdruck reduzieren. Selbstverständlich hängt das vom Verhalten des Einzelnen ab, doch im Durchschnitt führt die Mehrzeit und das Wenigergeld zur Ausführung von wenigen ressourcenintensiven Aktivitäten. In sozialer Hinsicht erleichtert die 35-Stundenwoche jenen Wandel, damit Beruf, Privatleben und gesellschaftliches Engagement ins Gleichgewicht kommen. Die Gretchenfrage ist allerdings: Wie steht es um die finanziellen Folgen? Kann sich unsere Gesellschaft und vor allem die einzelnen Arbeiter:innen die 35-Stundenwoche leisten? Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass der Modellwechsel sowohl auf der Gruppen- als auch auf der individuellen Ebene tragbar ist. Die Hauptbedingung besteht allerdings darin, dass die Arbeitszeitverkürzung der unteren Lohnklassen finanziert wird, während die oberen bis obersten Stufen eine moderate Lohnkürzung erfahren. Letzteres wirkt sich kaum negativ auf diese Personen aus, sofern sie selbst auch das Bedürfnis nach einer Arbeitszeitkürzung haben, was in unseren hypergestressten und übermedialisierten Zeiten praktisch überall der Fall ist. Für einmal gilt hier im wahrsten Sinn vom Wort, dass weniger mehr ist.
Ein weiteres Mittel gegen den Fachkräftemangel
In den Zeiten, wo das Pflegepersonal aufgrund einer jahrzehntelangen, katastrophalen Arbeitspolitik sich vom Gesundheitswesen verabschiedet (Stichwort: Pflexit), bietet die 35-Stundenwoche eine Möglichkeit, diese gefährliche Dynamik zu unterbrechen. Insbesondere läutet sie das Ende des unsäglichen 50-Stunden-Pensums ein, welches für Assistenz- und Oberärzt:innen immer noch gilt. Die AL-Fraktion ist ausserordentlich glücklich darüber, dass sie zu dieser ökonomischen, ökologischen und sozialen Verbesserung – trotz der Gegenstimme des Stadtrats – entscheidend beigetragen hat.