«Spannung verspricht die Wahl in Aussersihl und im Industriequartier» – raunt Ev Manz in der Wahlvorschau des Tagesanzeigers – «denn der einzige AL-Sitz wackelt. Mit Markus Bischoff tritt das Aushängeschild zurück, Lisa Letnansky auf dem ersten Listenplatz ist unbekannt, und die Partei hat bei den Gemeinderatswahlen im Kreis massiv Anteile eingebüsst.»
Mit Verlaub: Das ist blanker Unsinn. Die TA-«Prognose» für den Wahlkreis 4+5 ist bar jeder sachlichen Grundlage und grenzt an Fake-News. Sie ist mir gleich mehrfach in den falschen Hals geraten. Hier wackelt ausser der Argumentation des Tagesanzeigers gar nix!
Arme AL ohne den grossen Steuermann?
Da ist zunächst der unverkennbar sexistische Unterton. Ohne den grossen Steuermann Bischoff an Bord und mit einer unbekannten Frau an der Spitze: Wie soll es die AL da schaffen, ihren Sitz zu verteidigen? Statt über mögliche Negativfolgen von Bischoffs Rücktritt zu sinnieren, hätte die TA-Journalistin besser einen genaueren Blick auf die Liste geworfen und dabei entdeckt, dass die AL im Wahlkreis 4+5 mit einer reinen Frauenliste antritt. Unbekannt? Spitzenkandidatin Lisa Letnansky ist Dramaturgin an der Gessnerallee, Christina Schiller war von 2014 bis 2021 Gemeinderätin, Rahel El-Maawi ist Mitbegründerin eines Netzwerks für schwarze Frauen und Co-Autorin von «No to Racism – Grundlagen für eine rassismuskritische Schulkultur». Mehr dazu im Info-Artikel «Fünf Frauen für den Wahlkreis 4/5» von Andrea Leitner.
Tagesanzeiger hat «Pukelsheim» verpennt
Dann bin ich immer wieder fassungslos darüber, dass der Tagi offenbar auch 16 Jahre nach Einführung des doppelten «Pukelsheim» immer noch nicht begriffen hat, wie die Sitzzuteilung bei diesem Proporzsystem funktioniert. Wir erklären es gerne: Zuerst wird aufgrund der Stimmenzahl im ganzen Kanton ermittelt, wie viel Sitze jede Partei zugute hat. Entscheidend, ob ein Sitz wackelt, ist also nicht primär der Wähleranteil im einzelnen Wahlkreis (wie früher), sondern der Stimmenanteil im ganzen Kanton, denn dieser entscheidet über die Anzahl der Sitze, die eine Partei überhaupt erhält. Erst im zweiten Durchgang werden die Sitze der Parteien dann auf die einzelnen Wahlkreise heruntergebrochen.
Sicheres AL-Mandat in Aussersihl
2019 war für einen Sitz eine Wähler:innenzahl von 1675 erforderlich. Mit 9593 Wähler:innen kam die AL auf einen Sitzanspruch von 5.727 (=9593/1675). Da beim Pukelsheim ab 0.5 aufgerundet wird, ergab das 6 Sitze. Die Unterzuteilung gemäss Pukelsheim-Schlüssel erfolgte in dieser Reihenfolge:
Wahlkreis | Sitzanspruch nach Pukelsheim | Sitze |
Kreis 3+9 | 1.600084 | Sitz 1 und 6 |
Kreis 4+5 | 1.399167 | Sitz 2 |
Kreis 6+10 | 1.334412 | Sitz 3 |
Kreis 11+12 | 0.904428 | Sitz 4 |
Winterthur | 0.875000 | Sitz 5 |
Bei 12 Sitzen sind im Wahlkreis 3+9 für ein Mandat 8.33% erforderlich. Mit 8.01% kam die AL hier von allen Wahlkreisen am nächsten an einen Sitz heran. Damit ging der erste AL-Sitz nach Zürich 3+9. Der zweite Sitz ging in den Wahlkreis 4+5, der dritte Sitz in den Wahlkreis 6+10, der vierte und fünfte Sitz gingen dann mit deutlichem Abstand nach Zürich 11+12 und Winterthur. Der neu gewonnene sechste Sitz fiel aufgrund des grössten Restanspruchs dem Wahlkreis 3+9 zu, der damit 2 AL-Sitze erhielt. Sollten wir den sechsten Sitz verlieren, würde das auch wieder der zweite Sitz im Wahlkreis 3+9 sein. Damit ist jedoch nicht zu rechnen: Laut TA-Umfrage bleibt die AL stabil, laut NZZ legen wir sogar zu.
Die Tabelle zeigt deutlich, dass der Sitz im Wahlkreis 4+5 zusammen mit dem ersten Sitz in Zürich 3+9 und dem Sitz in Zürich 6+10 zu den drei sichersten Sitzen der AL gehört. Ganz einfach, weil wir in diesen drei Wahlkreisen absolut und relativ am meisten Stimmen erzielen: Mit 4439 Wähler:innen holen wir allein in diesen drei Wahlkreisen fast die Hälfte aller AL-Stimmen im Kanton.
Wahlkreis 4+5: «Pukelsheim» konkret
Im Wahlkreis 4+5 sind 5 Sitze zu vergeben. Damit braucht es für einen Sitz im Prinzip 20%. 2019 erzielte die SP 32.01%, gefolgt von den Grünen mit 18.16%, der AL mit 15.94% und der GLP mit 14.95%. Dahinter, deutlich abgeschlagen und ohne Mandatschancen, die FDP mit 8.41% und die SVP mit 6.66%. Die SP als klar stärkste Partei erhielt 2 Sitze, die vergleichbar starken Grünen, AL und GLP je 1 Sitz. Selbst wenn die AL in Zürich 4+5 Stimmen verlieren und die GLP zulegen und die AL überholen sollte, würde das nichts an der Verteilung der Mandate im Wahlkreis ändern. Rechnerisch völlig abstrus ist die Annahme des TA, GLP oder Grüne könnten bei einem Stimmenzuwachs einen zweiten Sitz zulasten der AL holen.
Grosse Bedeutung der Agglo-Stimmen
Bei der Unterzuteilung der Sitze kommt es bei kleineren Parteien mit stark divergierenden Wähleranteilen in den einzelnen Wahlkreisen zu starken Umverteilungseffekten. Das ist namentlich bei der AL der Fall, deren Stimmenanteil von 15.94% im Wahlkreis 4+5 über 1.63% in Uster bis zu 0.65% in Winterthur-Land schwankt. In den Wahlkreisen, wo es aufgrund der geringen Stimmenzahl nicht zu einem Mandat reicht, entsteht ein «Überschuss» an Stimmen. Dieser wird dann auf andere Wahlkreise umgelegt und führt dort zu Sitzgewinnen.
2019 mobilisierten wir in den 11 Wahlkreisen ausserhalb der Städte Zürich und Winterthur 2418 Wähler:innen und damit einen Viertel aller AL-Stimmen. Wir kamen aber in keinem Wahlkreis auf einen Stimmenanteil, der für ein Mandat gereicht hätte, das beste Ergebnis erzielten wir mit 1.63% im Wahlkreis Uster. Der in den Landbezirken erzielte Stimmen-Überschuss entspricht einem Potenzial von rund 1.5 Sitzen (=2418/1675). Dank dem «Pukelsheim» gingen diese Stimmen jedoch nicht verloren und haben massgeblich zur Sicherung der Mandate in den Wahlkreisen 11+12 und Winterthur und zum Gewinn des zweiten Sitzes im Wahlkreis 3+9 beigetragen.
Fehlalarm an der Werdstrasse – Jetzt erst recht AL wählen!
Fazit: Die TA-«Prognose» entpuppt sich also als purer Fehlalarm. Darum: Wählt im Wahlkreis 4+5 erst recht das Frauen-Quintett der AL! Und legt im ganzen Kanton die Liste 8 ein, damit im Kantonsrat weiterhin eine starke AL-Fraktion mit sechs oder mehr Mitgliedern politisieren kann!