
Als die Schweiz sich Ende der 1990er-Jahre anschickte, im «autonomen Nachvollzug» die Strommarkt-Liberalisierung der EU zu importieren, wehte kritisch gesinnten Geistern ein steifer Wind entgegen.
Es war ein kleines, verschworenes Grüppchen, welches das Referendum gegen das Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) lancierte, mit dem VPOD als Ankerorganisation. Wir starteten erst einen Monat nach Beginn der Sammelfrist und mussten bis zum letzten Moment bangen, ob es mit den Unterschriften reichen würde. Erst bei der Abstimmung konnten wir auf die Unterstützung von Linken, Grünen und Gewerkschaften zählen, aber auch das nicht uneingeschränkt. Nicht zuletzt Umweltschützer:innen erlagen der Illusion von einem marktbasierten Ausstieg aus der Atomenergie.
Unser Referendum richtete sich frontal gegen den herrschenden, Zeitgeist, gegen den auch Teile der Linken nicht immun waren: gegen das allgegenwärtige Mantra vom ineffizienten Staat, das Bashing von service public und Gewerkschaften und den quasi religiösen Glauben an Markt, Liberalisierung und Privatisierung. Ein Narrativ, das auch von den Leitmedien aktiv kolportiert wurde.
Ermutigende Anzeichen für einen Paradigmenwechsel waren die erfolgreichen, von AL und Gewerkschaften angestossenen Kampagnen gegen die Ausgliederung und Privatisierung des Stadtzürcher ewz (Juni 2000) und des kantonalen EKZ (Juni 2001). Warnung und Lehrblätz war für uns das Chaos im Zuge der Strommarkt-Liberalisierung in Kalifornien Ende der 1990er-Jahre, die wir aufmerksam verfolgten. Im Dezember 2001 gipfelte die Entwicklung im spektakulären Konkurs von Enron, dem von den Medien zum Superstar hochgelobten texanischen Gas- und Stromkonzern, der sich selber als «grossartigste Firma der Welt» feierte. Grenzenlose Gier, spekulative Preistreiberei zu Lasten der Kundinnen und Kunden, Luftbuchungen für Terminkontrakte, Auslagerung von Risiken in Drittgesellschaften, offene Bilanzfälschung säumten den Weg in die Pleite. In der «Verschwörung der Narren», einem 800-Seiten-Wälzer, hat Kurt Eichenwald die halluzinierende Geschichte von Aufstieg und Fall dieser Firma nachgezeichnet.

Unsere Kampagne warnte denn auch vor einem «Kurzschluss bei der Stromversorgung». Plakativ fragten wir in unseren Inseraten:
- Steigende Stromtarife wie bei den Krankenkassen?
- Unsere Stromversorgung den Spekulanten überlassen?
- Kommt nach Bahn- und Telecom-Pleiten im Ausland nun unser Strom dran?
Mit dem Nein vom 22. September 2002 und den Kompromiss im nachfolgenden Stromversorgungsgesetz haben wir erreicht, dass die Haushalte – im Jargon der Liberalisierer als «gefangene Kunden» verspottet – vom Börsenfieber der Strom- und der damit eng verbundenen Gas-Märkte weitgehend verschont geblieben sind und im Rahmen des Möglichen kostenbasierte und nicht Markt-Preise zahlen.
Allerdings hat sich der grösste Schweizer Player, die von den Kantonsregierungen nur lasch kontrollierte Axpo (Ex-NOK), trotz dem Nein zum EMG voll auf den internationalen Markt orientiert und von der Versorgungspflicht im Inland verabschiedet. Die Verdoppelung des Personalbestands der Handelsabteilung in den letzten fünf Jahren, das enorme Volumen des Energiederivate-Handels (Ende September 2021 bereits knapp 50 Milliarden Franken, heute sicher sehr viel mehr) und der aktuelle Liquiditätsengpass lassen nichts Gutes ahnen und wecken ungute Erinnerungen.
Doch auch jetzt scheint das Pendel wieder zurückzuschlagen. Nach langen Jahren der Abstinenz meldet sich die Politik wieder zurück und fordert Versorgungssicherheit statt Strombörsen-Monopoly.
Niklaus Scherr