Die AHV ist ein einzigartiges Sozialwerk. Sie sorgt für sozialen Ausgleich und Umverteilung von oben nach unten. Die AHV-Beiträge sind – anders als in den meisten ausländischen Sozialversicherungen – nach oben unbegrenzt und werden auf dem gesamten Einkommen erhoben, wirken aber nur bis zu einem Einkommen von gut 100’000 Franken rentenbildend. Damit helfen AHV-Beiträge von Besserverdienenden, die Renten von Menschen mit kleineren Einkommen mitzufinanzieren.
Bundesrat warnt vor Ausfällen bei der AHV
Mit der Einführung der Teilbesteuerung von Dividenden ist ein starker Anreiz entstanden, Einzelfirmen in AG’s oder GmbH’s umzuwandeln, sich einen Teil des Lohns steuerprivilegiert als Dividende auszuzahlen und gleichzeitig die AHV-Beitragspflicht zu umgehen. Schon in der Botschaft zur Unternehmenssteuerreform II im Jahr 2005 wies der Bundesrat warnend auf diese Problematik hin:
«Es darf nicht so weit kommen, dass ein Unternehmer-Aktionär kein Interesse mehr hat, sein AHV-pflichtiges Salär zu erhöhen, weil der Bezug von Dividenden ein höheres frei verfügbares Einkommen (nach Steuern) übrig lässt.»
(Botschaft 05.058, Seite 4797)
Aus Rücksicht auf die Finanzierung der AHV schlug der Bundesrat damals vor, die Teilbesteuerung beim Bund auf 80 Prozent anzusetzen, fand aber im Parlament kein Gehör. Bei der letzten Unternehmenssteuerreform (Steuervorlage 17/STAF) begründete der Bundesrat seinen – erfolglosen – Antrag für eine kantonale Mindestbesteuerung von Dividenden in Höhe von 70 Prozent nicht zuletzt mit der AHV:
«Die Erhöhung der Dividendenbesteuerung (…) wirkt der Tendenz entgegen, aus steuerlichen Gründen Dividenden statt Lohn zu beziehen. Das kommt der AHV zugute.»
(Botschaft 18.031, Seite 2554)
AHV-Ausgleichskassen wehren sich
Direkt konfrontiert mit den Auswirkungen des Dividenden-Steuerrabatts sind die AHV-Ausgleichskassen. 2017 erklärte Andreas Dummermuth, Präsident der AHV-Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen, in einem TA-Interview dazu:
«Das Problem sind heute vor allem Ein-Mann- und Kleinst-AGs. Berufsgruppen wie Ärzte, Anwälte und Architekten machen sich einen Volkssport daraus, eine GmbH zu gründen, um mehr Dividenden und weniger Lohn beziehen zu können. So wird ein System von innen ausgehöhlt.»
(«Die AHV erhält nur Brosamen», Tagesanzeiger online 6. April 2017)
Die AHV-Ausgleichskassen versuchen denn auch, dieser Beitragserosion entgegenzuwirken, indem sie bei einem krassen Missverhältnis zwischen Lohn und Dividende einen Teil der Gewinnausschüttung als AHV-pflichtiges Einkommen umqualifizieren.
Bundesgericht setzt enge Grenzen
Allerdings setzt ihnen die Rechtsprechung des Bundesgerichts dabei enge Grenzen. Mittlerweile gibt es rund ein Dutzend höchstrichterliche Urteile zu dieser Frage. Schlagzeilen machte 2019 der Glarner Ärztefall (BGE 145 V 50). Von 2003 bis 2007 hatten zwei Ärzte als Selbständige Jahreseinkommen zwischen 309’400 und 517’400 Franken deklariert und darauf AHV-Beiträge abgeführt. Nach Gründung einer Aktiengesellschaft im Jahr 2008 bezifferten sie ihr Einkommen noch auf 144 000 beziehungsweise 134 000 Franken; je 250 000 Franken deklarierten sie als Dividenden. Das Bundesgericht schützte diese steuerrechtliche Aufteilung auch für die AHV-Beitragspflicht. Es hielt sich dabei an den Grundsatz: «Soweit es vertretbar ist, soll eine verschiedene Einschätzung der Steuerbehörde und der AHV-Verwaltung vermieden werden, dies um der Einheit und der Widerspruchslosigkeit der gesamten Rechtsordnung Willen.» (BGE 145 V 50, E. 3.3, S. 54)
Wie hoch die Ausfälle bei der AHV sind, ist nicht genau bekannt. Der Bundesrat bezifferte sie im berühmt-berüchtigten, vom Bundesgericht als «unvollständig» und «unsachlich» kritisierten Abstimmungsbüchlein zur Unternehmenssteuerreform II (USR II) vom Februar 2008 schweizweit mit 86 bis 130 Mio Franken. Dieser Betrag dürfte, wie auch die übrigen Zahlen zu den Steuerausfällen, deutlich zu tief gegriffen sein. Eine SGB-Untersuchung ging 2015 vom Dreifachen aus.
2007 – 2018: Immer weniger Selbständigerwerbende im Kanton Zürich
Diese für die AHV negative Entwicklung belegt auch ein Blick in die Bundessteuerstatistik für den Kanton Zürich. Bis 2007 nahm in der Einkommensgruppe von 100’000 Franken und mehr die Anzahl der Selbständigerwerbenden und das von ihnen versteuerte Einkommen regelmässig zu. 2008, mit Inkrafttreten des Dividenden-Steuerrabatts, erfolgte eine Trendumkehr. Bis 2018 ging die Anzahl der Selbständigen und ihr Reineinkommen um einen Drittel zurück. Bei den Selbständigen verringerte sich das Reinkommen um 1.2 Milliarden Franken, während es bei den Unselbständigerwerbenden um 7.7 Milliarden Franken zunahm.
Am 25. September: JA zur AL-Initiative, 2x NEIN zur AHV-Revision
Am 25. September stimmen wir nicht nur über die AL-Initiative ab, sondern auch über die AHV-Revision. Bevor mann den Frauen mit der Rentenaltererhöhung zusätzliche Lasten aufbürden will, wäre es angezeigt, zum AHV-Bschiss findiger Unternehmer-Aktionär:innen Gegensteuer zu geben. Mit einer moderaten Erhöhung des steuerbaren Anteils von Dividenden von 50 auf 70 Prozent verringern wir den Anreiz, die AHV zu schwächen. Das JA zur AL-Initiative und das Doppel-NEIN zur AHV-Revision ergänzen sich.
Niklaus Scherr