Seinerzeit für den Bahnbetrieb erworbene oder enteignete Areale, die nicht mehr für Bahnzwecke benötigt werden, sollen einem neuen öffentlichen Zweck zukommen, nicht zu Renditezwecken verwertet werden. Klar im Vordergrund steht in der Stadt Zürich dabei die Erstellung gemeinnütziger, zahlbarer Wohnungen.
Dank politischem Druck: Zollhaus und Letzibach D
Ein Verkauf des Neugasse-Areals oder eine Abgabe im Baurecht, wie es die Noigass-Initiative fordert, wäre keine Premiere. In den letzten 10 Jahren hat die SBB zwei Mal Land für gemeinnützigen Wohnungsbau verkauft: an der Zollstrasse an die Genossenschaft Kalkbreite («Zollhaus»; 48 Wohnungen) und an der Hohlstrasse an die Stadt Zürich («Letzibach D»; 265 Wohnungen). Beide Male allerdings nur dank grossem politischem Druck des Gemeinderats:
- Beim Zollhaus-Areal hatte der Gemeinderat auf Antrag der Fraktion Grüne/AL 2006 vorausschauend mit einer Gestaltungsplanpflicht Druck aufgesetzt. Zudem besass die Stadt einen strategisch wichtigen Arealteil und die SBB konnte als Hinterlieger praktisch nicht selbständig bauen.
- Zum Kauf des Letzibach D-Areals an der Hohlstrasse kam es wegen einer Referendumsdrohung. 2010 wollte die Stadt der SBB beim Bahnhof Altstetten eine Kleinparzelle verkaufen, um die Realisierung des SBB-Projekts Westlink zu ermöglichen. Die AL forderte als Gegenleistung ein SBB-Areal für gemeinnützigen Wohnungsbau und drohte mit dem Referendum. Darauf zog der Stadtrat die Vorlage zurück und vereinbarte stattdessen mit der SBB ein Näherbaurecht, mit der Verpflichtung, im Gegenzug das Areal Letzibach D zu günstigen Konditionen abzugeben. Bis es effektiv so weit war, vergingen allerdings drei Jahre. Nachdem sich die SBB im Herbst 2012 geweigert hatte, den bereits aufgesetzten Verkaufsvertrag im Notariat zu unterzeichnen, platzte FDP-Stadtrat Vollenwyder der Kragen. Schliesslich musste eine Dreierdelegation des Stadtrats – Corine Mauch, André Odermatt und Martin Vollenwyder – persönlich zur SBB nach Bern fahren, um das Geschäft unter Dach und Fach zu bringen. Hier brauchte es den Druck des Parlaments und die Entschlossenheit des Stadtrats.
Beide Male wurde ein Landpreis vereinbart, welcher den Bau günstiger Wohnungen möglich macht.
Forfait vor Spielbeginn
Dass der Stadtrat beim Areal Neugasse gross Druck für einen Kauf gemacht oder offensiv Verhandlungen geführt hätte, kann man nicht behaupten. Schon am 21. März 2018, als wir die Noigass-Initiative einreichten, kündigte uns Peter Saile, der damalige Rechtskonsulent des Stadtrats, die Ungültigerklärung an. Es reiche dafür, beim anvisierten Verkäufer eine verbindliche Absage einzuholen. So habe er das mit Erfolg schon einmal Anfang der 1990er-Jahre als Rechtskonsulent dem Winterthurer Stadtrats empfohlen.
Das Vorgehen des Stadtrats entspricht ganz diesem Szenario. Einen Monat nach Einreichung der Initiative, am 18. April 2018, schrieb er pflichtschuldig der SBB einen Brief. «Im Rahmen der öffentlichen Diskussion wurden Anliegen vorgebracht, auf dem SBB-Areal Neugasse ausschliesslich gemeinnützige Wohnungen zu erstellen», beginnt das Schreiben nicht gerade enthusiastisch. Dann beteuert der Stadtrat «das grosse Interesse der Stadt an einem Kauf des Areals». Er erachte es als wichtig, diese Grundsatzfrage zum heutigen Zeitpunkt zu klären und würde es begrüssen, «wenn die SBB dem Stadtrat schon bald eine verbindliche und abschliessende Antwort [Hervorhebung N.S.] auf die Anfrage geben könnte.»
Eleganter kann man dem Gegenüber den Ball nicht zuspielen, um eine Absage zu erhalten. Der Stadtrat gab Forfait, bevor die Partie angepfiffen wurde. Das Njet der SBB kam erwartungsgemäss und prompt, ebenso der Antrag des Stadtrats auf Ungültigerklärung, assortiert mit einigen Zugeständnissen.
Stadtrat verspielt Verhandlungstrumpf
Das ist umso stossender, als der Stadtrat sich kurz zuvor brisante Unterlagen beschafft hatte. Am 1. November 2017 gab Stadtrat Odermatt eine Studie über die Erwerbsgeschichte des Neugasse-Areals in Auftrag. Der am 21. Dezember 2017 abgelieferte Bericht hatte es in sich. Er ergab, dass ein Landstreifen von 18’000 m2 – zwei Drittel des Neugasse-Areals – ursprünglich der Stadt gehörte und 1925 für den Bau des Bahndepots durch die SBB enteignet wurde. Wie dem Enteignungs-Protokoll zu entnehmen ist, hatte die Stadt nach dem ersten Weltkrieg entlang der Neugasse gezielt vier nicht selbständig bebaubare Grundstücke erworben und zusammengelegt, um «die bauliche Ausnützung des Bodens für Wohnungen und Industriezwecke» zu ermöglichen. Das Protokoll betont denn auch «das ganz ausnahmsweise vorteilhafte Verhältnis einer sehr langen Front zu richtiger Bautiefe, was eine Einteilung des Landes für jegliche Zwecke erleichtert.» (Protokoll der Schätzungskommission vom 22. Oktober 1925, Seiten 5 und 12) Die Stadt erhielt für ihr Land damals marktübliche 26 Franken pro m2, das entspricht teuerungsbereinigt rund 160 Franken.
Alles in allem: Ein Steilpass für Verhandlungen mit der SBB – der vom Stadtrat nicht aufgenommen wurde.
SBB kann Volksvotum nicht ignorieren
Auch der bisherige Verlauf der Neugasse-Planung zeigt übrigens, dass die SBB auf politischen Druck reagiert. Zunächst offerierte die SBB bloss, einen Drittel der Wohnungen «preisgünstig» – 20 Prozent unter der marktüblichen Miete – zu vermieten. Als der Stadtrat auf einem Drittel gemeinnütziger Wohnungen im Sinne des wohnpolitischen Grundsatzartikels beharrte, lenkte die SBB im November 2016 ein. Nach Einreichung der Noigass-Initiative kam ein Drittel der gewerblichen Nutzung in Kostenmiete und ein Baurecht für das Schulhaus hinzu.
Das letzte Wort ist in der Causa Neugasse noch nicht gesprochen. Bei einem Ja droht die SBB zwar mit einem Abbruch des Projekts. Doch die SBB ist kein x-beliebiger privater Investor. Als Bundesbetrieb, der zu 100 Prozent dem Bund gehört, kann sie ein Votum der Stadtzürcher Stimmberechtigten zur Initiative nicht einfach ignorieren. Bei einem Ja werden die Karten für weitergehende Verhandlungen nochmals neu gemischt.
Niklaus Scherr