Vor über 100 Jahren gehörte die SBB zu den Pionieren des gemeinnützigen Wohnungsbaus und bis zu ihrer Ausgliederung im Jahr 1998 unterstützte sie Baugenossenschaften tatkräftig mit Landverkäufen, Baurechten und günstigen Restfinanzierungen. Das war einmal. Mit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft hat das schlagartig geändert. Seit 2000 sind auf SBB-Arealen in der Stadt 1504 Neubauwohnungen entstanden, davon 1191 Wohnungen mit Mieten im obersten Marktpreissegment. Nur bei zwei Arealen und nur unter massivem politischem Druck hat die SBB Hand geboten zu einem Verkauf für den gemeinnützigen Wohnungsbau: bei Letzibach D mit 265 städtischen und beim Zollhaus mit 48 genossenschaftlichen Wohnungen.
Stadt Zürich: Nur ein Fünftel gemeinnützige Wohnungen
313 von 1504: Die gemeinnützigen Wohnungen machen bloss einen Fünftel aller Wohnungen auf städtischen SBB-Arealen aus. Die «Noigass»-Initiative, über die wir am 25. September abstimmen, will dieses Missverhältnis korrigieren. Werden auf dem SBB-Areal Neugasse 100 Prozent gemeinnützige Wohnungen gebaut, steigt der Anteil von Wohnungen in dauerhafter Kostenmiete auf ein Drittel. Das entspricht dem Anteil, den der wohnpolitische Grundsatzartikel der Stadtzürcher Gemeindeordnung als Ziel anstrebt.
Profitcenter SBB Immobilien
Bei der «Noigass»-Abstimmung geht es nicht bloss um ein lokales Politikum, sondern auch um eine Ausmarchung über die künftige Immobilienstrategie der SBB, der hinter Armasuisse zweitgrössten Grundeigentümerin der Schweiz. In den letzten 20 Jahren ist der Bahnkonzern zu einer heimlichen Immobilien-Gigantin herangewachsen. 2008 wurde der Bereich Immobilien in den Rang einer Division erhoben, gleichwertig neben den Divisionen Personenverkehr, Güterverkehr und Infrastruktur. Neben rund 800 Bahnhöfen mit zum Teil riesigen Shoppingzentren bewirtschaftet SBB Immobilien eine wachsende Zahl von Entwicklungsarealen.
12 Prozent Bruttorendite
Ein paar Eckdaten:
- Die Division Immobilien verfügte 2021 über Grundstücke und Gebäude im Buchwert von 5’003 Mio CHF, zusammen mit den Anlagen im Bau (942 Mio CHF) bilanzieren die Immobilienanlagen mit insgesamt 5’945 Mio CHF.
- Finanziert wird dieses Portfolio und die laufende Immobilienexpansion mit 5’664 Mio CHF Fremdkapital – zu 95 Prozent also auf Pump. Das Fremdkapital stammt überwiegend vom Bund: 5’480 Mio Franken sind langfristige kommerzielle Darlehen der Eidgenossenschaft, die zu sehr günstigen 0.8% verzinst werden.
- In der SBB-Bilanz figurieren die Landwerte der Liegenschaften bis heute zu den historischen Anschaffungskosten, wie sie zum Teil von den privaten Vorgängerbahnen (NOB etc.) übernommen wurden. Bis 2017 wurden sie im Geschäftsbericht noch separat ausgewiesen: Sie betrugen für die Division SBB Immobilien – ohne die Gleisareale und Depots der Division Infrastruktur – schlappe 75 Franken pro Quadratmeter, Europaallee & Co inbegriffen! Jede Arealentwicklung, jeder Verkauf, jede Abgabe im Baurecht bringt damit praktisch 100 Prozent Profit. Der Marktwert aller Areale von SBB Immobilien dürfte geschätzt bei 13 bis 15 Milliarden Franken liegen.
- 2021 kassierte SBB Immobilien 608.3 Mio CHF Mieten. Bezogen auf den Anlagewert von 5’003 Mio CHF ergibt das eine sagenhafte Bruttorendite von 12.2%! Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass etwa die Bahnhöfe nur zu einem Teil kommerzielle Erträge abwerfen.
«Strategische Ziele» als Freipass
Festgelegt werden die Rahmenbedingungen jeweils für 4 Jahre in den «Strategischen Zielen des Bundesrats für die SBB AG»: SBB Immobilien – so die Ziele 2019-2022 – «partizipiert durch die gezielte Entwicklung ihres Portfolios und der Bahnareale an deren Wertsteigerung.» Eine Formulierung, die der Chefetage weitgehend freie Hand lässt. Pro Jahr muss SBB Immobilien 150 Mio CHF an die Division Infrastruktur abliefern und – bis 2031 – zur Sanierung der Pensionskasse beitragen.
SBB plant 12’000 neue Wohnungen
SBB Immobilien hat ambitionierte Pläne. Bis 2040 sollen auf SBB-Arealen schweizweit 12’000 zusätzliche Wohnungen erstellt werden. Gegenüber 2021 sollen sich die Mieterträge verdoppeln und der Anteil der Wohnungsmieten von 6% auf 25% steigen. 2019 versprach Alexander Muhm, der neue CEO von SBB Immobilien, ein Drittel «preisgünstige» Wohnungen. Neuerdings ist sogar von der Hälfte die Rede – allerdings rechnet die SBB dabei grosszügig die Baurechte der «alten» SBB ein, das erlaubt ihr, weiterhin mehrheitlich Marktwohnungen zu bauen. Was immer die SBB unter «preisgünstig» versteht, mindestens bei den Absichtserklärungen hat der wachsende politische Druck Spuren hinterlassen.
Bundesbern fordert Kurswechsel
Die geplanten 12’000 Wohnungen haben endlich auch Bundesbern auf den Plan gerufen. Mit einer im Dezember 2021 eingereichten parlamentarischen Initiative verlangt SP-Nationalrat Christian Dandrès Kostenmieten und Mietzinskontrollen bei den SBB-Wohnungen. Und GLP-Nationalrat Beat Flach will mit einer Motion Bundesbetriebe verpflichten, «die Berechnungen der Mietzinse inklusive der Renditen der Immobilien pro Mietobjekt periodisch zu veröffentlichen». Last but not least: Bis im Dezember 2022 muss der Bundesrat – unter Federführung von Bundesrätin Sommaruga und Bundesrat Maurer – die neuen «Strategischen Ziele» für die Jahre 2023 – 2026 festlegen.
Mit einem Ja zur Initiative senden wir ein klares Signal für einen Kurswechsel bei SBB Immobilien nach Bern.
Niklaus Scherr