Ein oft angeführtes Argument für Werbung ist, sie diene der Information. Diesem Anspruch wird augenscheinlich kein Plakat gerecht. Vielmehr werden unbefriedigte Bedürfnisse der Betrachtenden angesprochen, etwa Zugehörigkeit, Anerkennung, Harmonie oder Abwechslung, deren Erfüllung durch ein kommerziellen Angebot suggeriert wird. Dass die Konsumation das Bedürfnis kaum je nachhaltig erfüllt, ist rational uns allen klar; der emotionalen Beeinflussung können wir uns – den angewandten psychologischen Tricks wegen – doch nur schwer entledigen.
Wenn Werbung ihre manipulative Wirkung entfaltet – was ihr inhärentes Ziel ist, und wovon angesichts ihres umfassenden Einsatzes auszugehen ist – so hat sie in vielfacher Weise einen negativen Einfluss auf unsere Gesellschaft. Erstens heizt sie die Konsumkultur an, und damit auch die Umweltzerstörung und die globale Erwärmung. Zweitens trägt sie, indem sie sich selbst bei banalen Alltagsgütern längst nicht mehr auf deren materiellen Eigenschaften bezieht, sondern massenproduzierte Vorstellungen von «Individualität» evoziert, zu einer Kultur des Narzissmus bei. Drittens können wir den in der Werbung gezeigten perfekten Bildern kaum je gerecht werden, was unseren Selbstwert beeinträchtigt, insbesondere wenn wir jung sind.
Selbst wenn eine Werbung nicht wirkt, so vereinnahmt sie doch unseren öffentlichen, gemeinsamen Raum. In der Stadt werden kommerzielle Inhalte in jedem Moment, in dem wir uns draussen aufhalten, in unser Blickfeld und in unser Bewusstsein gerückt. Diese Beherrschung der Umgebung ist im Laufe der Zeit zum «natürlichen» Zustand geworden, sodass sie manche gar als teil von «Urbanität» begreifen.
Durch die langfristige, kommerzielle Sättigung hat die Öffentlichkeit verinnerlicht, Werbung habe das Recht, jeden Zentimeter verfügbaren Raums zu besetzen und zu besitzen. Die stetige Normalisierung invasiver Werbung, immer mehr auch durch animierte, elektronische Bildschirme, dämpft die Wahrnehmung der Öffentlichkeit von ihrer Umgebung und verstärkt ein allgemeines Ohnmachtsgefühl, sich bei deren Gestaltung kreativ einbringen zu können. Es ergibt sich eine Rückkopplung, die es Werbetreibenden ermöglicht, die Sättigung stetig und konsequent zu erhöhen – weitgehend ohne Widerstand.
Momentan geschieht dies mit der Ausschreibung weiterer Werbebildschirme durch das Amt für Städtebau. Als dies zum ersten Mal geschah, im Jahr 2015, reichte die Fraktion der Alternativen Liste ein Postulat ein, um die Werbeflächen in der Stadt Zürich zu reduzieren (GR-Nr. 2015/79). Dieses wurde von der SP abgelehnt, weil sie nicht auf die Einnahmen verzichten wollte. Diese sind mit rund 20 Millionen Franken jährlich jedoch ein vernachlässigbarer Posten in der städtischen Rechnung, und wiegen die gesamtgesellschaftlichen Kosten, die sie verursachen, nicht annähernd auf.
Die SP-Fraktion ist inzwischen neu zusammengesetzt. Anfang Juli haben die Fraktionen der AL, SP und Grünen anlässlich der aktuellen Ausschreibung gemeinsam ein Postulat eingereicht, um den Ausbau von Reklameflächen, insbesondere der elektronischen, zu stoppen (GR-Nr. 2022/317). Weitere Vorstösse zur Reduktion der Werbeflächen sind in Diskussion in den Fraktionen. Ich hoffe auf eine überzeugte Weiterführung des neuen Kurses. Die Stadt Zürich könnte sich so vielleicht bald einreihen bei anderen Vorreiterstädten wie Grenoble, São Paulo, oder den US-Staaten Vermont, Maine, Hawaii und Alaska, die seit Jahrzehnten ein weitgehendes Werbeverbot in der Öffentlichkeit kennen.