Die von ehemaligen Mitarbeitenden des MNA-Zentrum Lilienberg offengelegten Missstände sind Ausdruck struktureller Mängel des im Februar 2019 zwischen dem Kantonalen Sozial- amt (KSA) und der AOZ abgeschlossenen MNA-Rahmenvertrags. Diese Mängel haben sich mit der seit Mitte 2021 steigenden Zahl der zu betreuenden unbegleiteten Minderjährigen verschärft. Die Situation dürfte sich in den kommenden Monaten weiter zuspitzen.
Weil die mit dem Kanton vertraglich vereinbarte Entschädigung für die Unterbringung und Betreuung von MNA viel zu tief ist, kann die AOZ die mit dem KSA vertraglich vereinbarten sozialpädagogischen Standards nicht einhalten. Die Folgen:
- Das Wohl hunderter unbegleiteter Minderjähriger kann nur eingeschränkt sichergestellt werden.
- Die von der Schweiz mit der Unterzeichnung der Kinderrechtskonvention vertraglich vereinbarten Grundsätze können nicht eingehalten werden.
Der Zürcher Stadtrat und der Verwaltungsrat der AOZ gehen davon aus, dass strukturelle Verbesserungen erst im Rahmen der Erneuerung des MNA-Vertrags – also ab März 2024 – umgesetzt werden können1. Dieses Vorgehen halten wir für unverantwortlich. Mit der Er- höhung der personellen Ressourcen und der Eröffnung weiterer Unterkünfte können die ver- traglich vereinbarten Ziele des bis Ende Februar 2024 laufenden Rahmenvertrags MNA- Strukturen erreicht werden, ohne dass der bestehende Leistungsauftrag vorzeitig gekün- digt wird. Voraussetzung dafür ist, dass die für das kantonale Sozialamt zuständige Sicherheitsdirektion, der Zürcher Stadtrat als Eigentümerin der AOZ und die Standortgemeinde Affoltern a.A. die nötigen Massnahmen gemeinsam in die Wege leiten. Wenn diese Gespräche nicht erfolgreich verlaufen würden, wäre – als Ultima Ratio – die vorzeitige Kündigung des Einzelvertrags für den Betrieb des Zentrums Lilienberg zu prüfen.
Die Weiterführung des MNA-Vertrags bis zum Ablauf Ende Februar 2024 ist aus unserer Sicht möglich, wenn Sofortmassnahmen umgesetzt werden.
Sofortmassnahmen
- Anstellung von zusätzlichen Sozialpädagog*innen für die Betreuung und Begleitungen der Jugendlichen im MNA-Zentrum Lilien-berg. Die Zahl der zu schaffenden Stellen ist wie folgt zu bemessen:
- in betreuungsintensiven Zeiten sind mindestens zwei Sozialpädogig*innen pro Wohngruppe (8 Jugendliche) präsent.
- den Sozialpädagog*innen stehen insbesondere die Ressourcen zur Verfügung, um
- die im Aufsichtsbericht 2015 vom AJB geforderte systematische Ent- wicklungs- und Bildungsplanung sicherzustellen;
- allen Jugendlichen unter der Woche und am Wochenende unterschiedliche Freizeitbeschäftigen anbieten und in den Schulferien Ausflüge und Lager durchzuführen zu können;
- Krisensituationen frühzeitig zu erkennen und aufzufangen;
- sich mit den Arbeitspartner*innen (Lehrpersonen, Beistände, Psycholog*innen, Gesundheitspersonal etc.) auszutauschen.
Die Personalplanung soll auf dem von einem Team von Fachpersonen der AOZ mit externer Unterstützung erarbeiteten «Rahmenkonzept für den MNA-Bereich» basieren, das im November 2017 fertiggestellt worden ist.
Für die von der AOZ zu finanzierenden Anstellungen von qualifiziertem Fachpersonal ist mit jährlichen Mehrkosten von mehreren Millionen Franken zu rechnen. Die AOZ verfügt per 31.12.2021 über ein zweckfreies Eigenkapital von 11.57 Mio Franken, aus denen die im Jahr 2022 anfallenden Mehrkosten finanziert werden können.
Wenn die Sicherheitsdirektion nicht bereit sein sollte, die zusätzlichen Personalkosten ab Januar 2023 zu übernehmen, ist der Zürcher Stadtrat angehalten, die Ausgaben dem Gemeinderat im Rahmen eines neuen Auftrags für besondere städtische Integrationsleistungen (Ergänzende Betreuung und Begleitung von unbegleiteten Minderjährigen im kantonalen MNA-Zentrum Lilienberg) zu beantragen.
2. Halbierung der Kapazität des MNA-Zentrums Lilienberg und Eröffnung von bis zu fünf weiteren MNA-Unterkünften (Aussenwohngruppen)2.
Gemäss Vertrag können im MNA-Zentrum Lilienberg bis zu 90 Jugendliche untergebracht werden (vertraglich vereinbarte Normkapazität)3. Diese Vorgabe führt zu unhaltbaren Zuständen. Für den Betrieb eines Jugendheims mit 90 Jugendlichen fehlt es im Lilienberg an den nötigen Räumen. Zimmer und Küchen sind zu klein, die sanitären Anlagen nicht ausreichend und gemeinsame Aufenthalts- und Rückzugsräume nicht vorhanden4. Um den Betrieb weiterführen zu können muss die Zahl der Wohn- gruppen von 9 auf 6 und die Belegung pro Wohngruppe auf 8 Jugendliche reduziert werden. Die Normkapazität ist deshalb auf die der AOZ garantierte Minimalabgeltung (45 Plätze) zu beschränken. Zudem sind einzelne bauliche Massnahmen umzusetzen. Diese Massnahmen erfordern das Einverständnis der Sicherheitsdirektion und den Abschluss weiterer Einzelverträge für Aussenwohngruppen für die rund 50 Jugendlichen, die vom Zentrum Lilienberg in andere Unterkünfte verlegt werden müssen. Da gemäss MNA-Rahmenvertrag die Entschädigung pro Tag bei Belegung von 50 Prozent rund 20 Prozent höher ist als bei einer Maximalbelegung5, entstehen Mehrkosten, die das kantonale Sozialamt tragen muss. Festzuhalten ist, dass der Tagessatz für die Unterbringung in einem Kinder- und Jugendheim mindestens dreimal höher liegt.
3. Verlegung der Schule (Aufnahmeklassen Asyl) vom Lilienberg in das Sekundarschulhaus der Oberstufenschule in Affoltern a.A. Während ihres Aufenthalts im Bundesasylzentrum in der Stadt Zürich werden MNA in den Aufnahmeklassen Asyl der Stadtzürcher Schulen Pfingstweid und Limmat unterrichtet und betreut. In der Aussenwohngruppe Augbruggweg untergebrachte MNA besuchen Schulen im Schulkreis Schwamendingen. Im zwischen dem kantonalen Sozialamt und der AOZ abgeschlossenen Einzelvertrag für den Betrieb des MNA-Zentrums Lilienberg ist jedoch festgehalten, dass «der Auftragnehmer» dafür «sorgt …, dass genügend Räume im MNA-Zentrum Lilienberg als Schulzimmer genutzt werden können». Der Unterricht findet zurzeit in zu klein dimensionierten Schulzimmern auf dem Gelände des Zentrums statt, welche nicht als Schulraum geeignet sind. Aufgrund der internen Schulung gibt es für die grosse Mehrheit der Jugendlichen keine Alltagskontakte mit in Affoltern a.A. wohnhaften Jugendlichen. Die Fremdnutzung der zur Verfügung gestellten Schulräume verschärft die Raumknappheit des Zentrums. Mit der Reduktion der Belegung des Zentrums Lilienberg dürfte die Integration der Aufnahmeklassen Asyl für die im Lilienberg wohnhaften MNA in die Oberstufenschule Affoltern a.A. realisierbar sein. Der Transfer der Schule per Schuljahrbeginn 2022/23 und die Anpassung des Einzelvertrags für den Betrieb des MNA-Zentrums Lilienberg muss mit dem Sozialvorstand der Stadt Affoltern a.A. und der Oberstufenschulpflege vereinbart werden.
Weitere Massnahmen
4. Mindeststandards, Transparenz, Aufarbeitung
Definition von Mindeststandards6 für Vergabe von Aufträgen. Die Erfahrung zeigt, dass Ausschreibungen im MNA-Bereich nach dem Bieter:innenprinzip zu ungenügen- der und kindswohlgefährdender Unterbringung und Betreuung führen. Auf ein Sub- missionsverfahren ist künftig in einem derart sensiblen Bereich aus Kindsschutzgrün- den zu verzichten. Die Standards für Unterbringung und Betreuung sind durch die PAVO (Pflegekinderverordnung des Bundes) und das Kinder- und Jugendheimgesetz des Kanton Zürich sowie die dazugehörende Verordnung geregelt. Die Aufsicht über die MNA-Strukturen des Kantons Zürich ist analog zur Aufsicht über die Zürcher Kinder- und Jugendheime zu regeln.
Transparenz. Um die Wirksamkeit der Sofortmassnahmen zu überprüfen braucht es regelmässige, unabhängige und unangekündigte Audits im MNA-Zentrum Lilienberg und den Aussenwohngruppen. Diese müssen Unzulänglichkeiten aufdecken und
Verbesserungspotential aufzeigen. Die aktuellen Arbeitsverträge der Mitarbeitenden untersagen ihnen jegliche Kommunikation nach aussen. Die Verträge sind anzupassen und gemäss Punkt 5 i) der Eigentümerstrategie zur Asyl-Organisation Zürich vom 27. Mai 2021 „organisationsinterne Beschwerdewege sowie den Zugang der Mitarbeitenden zur städtischen Ombudsstelle sicherzustellen“
Information und Beschwerderechte der Klient*innen. Die Jugendlichen in den MNA- Zentren sind die gemäss dem im November 2021 von der AOZ beschlossenen «Informations- und Beschwerdemanagementreglement» geltenden Rechte sofort zu gewähren. MNAs sind vulnerable Personen. Für sie gilt deshalb Art 8 des Reglements.
Lückenloses Aufarbeitung der Vorkommnisse. Die Berichte ehemaliger AOZ-Mitarbeitenden zeichnen das Bild eines staatlich geführten Kinder- und Jugendheims, welches Kindswohlgefährdung in Kauf nahm und Audits beschönigte. Wir fordern die Aufsichtsorgane von Stadt und Kanton Zürich zu einer lückenlosen Aufarbeitung der über Jahre hinweg unzureichenden und kindswohlgefährdenden Unterbringung und Betreuung der MNA auf. Verantwortlichkeiten sind zu benennen.
Ergänzung vom 22. Mai 2022
Mit den Nachtragskrediten beantragt der Zürcher Stadtrat 730’000 Franken für den Be-trieb einer zweiten MNA-Aussenstelle an der Affolternstrasse und 325’000 Franken für zusätzliches Fachpersonal für die Begleitung und Betreuung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (BBJE). Mit den zusätzlichen Mitteln kann die AOZ qualifizierte Sozialpädagog:innen anstellen.
Wir begrüssen diese Massnahmen. Sie zeigen, dass die Stadt Zürich eigenständig handeln kann. Sie sind aber «nur» der sprichwörtliche Tropfen auf den heissen Stein.
Die neue MNA-Aussenstelle Affolternstrasse ist im Mai eröffnet worden und bietet in einer ersten Wohngruppe Platz für sechs junge Frauen. Die Eröffnung war überfällig, weil die für 15 Jugendliche konzipierte MNA-Aussenstelle Aubruggweg mit über 30 Jugendlichen massiv überbelegt worden ist und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen nicht mehr untergebracht werden konnten.
Das vor einigen Jahren mit städtischen Mitteln aufgebaute BBJE-Programm ist für die Begleitung von der Stadt Zürich zugewiesenen jungen Erwachsenen aufgebaut worden. Mit den BBJE-Ressourcen kann die personelle Notlage in bestehenden MNA-Zentren punktuell aufgefangen werden. Die überfällige Aufstockung des Personals der MNA-Zentren mit sozialpädagogischen Fachleuten kann das BBJE-Programm nicht ersetzen.
- Im Beschluss vom 25.08.2021 zum neuen Leistungsauftrag der AOZ hält der Stadtrat fest: Die grössten Anpassungen im Leistungsauftrag betreffen die neuen inhaltlichen Ausführungen zum städtischen Leistungsbereich wie auch zum Leistungsbereich Dritte im Abschnitt «II. Inhaltliche Vorgaben (Minimalstandards)». Die Vorgaben bauen weitgehend auf den bestehenden fachlichen Standards der AOZ auf und gelten sowohl für den städtischen Leistungsbereich als auch den Leistungsbereich Dritte bei der Umsetzung von nach Inkrafttreten des aktualisierten Leistungsauftrags getroffenen Leistungsvereinbarungen (Art. 10).»
- Per 30. April 2022 ist eine Aussenwohngruppe für besonders vulnerable Jugendliche eröffnet worden (Normkapazität 12 Plätze). Die be- stehende Aussenwohngruppe Aubruggweg hat eine Normkapazität von 15 Plätzen, ist aber aktuell stark überbelegt (Schwankungsreserve)
- Zurzeit wird über eine Erhöhung der Kapazität diskutiert. Das Sozialamt des Kantons Zürich scheint von der AOZ zu verlangen, die vertrag- lich vereinbarte Schwankungsreserve im Zentrum Lilienberg und der Aussenwohngruppe Aubrugg zu aktiveren. Der Rahmenvertrag ver- langt von der AOZ, dass sie innerhalb von vier Tagen bestehende Unterkünfte über die Normkapazität hinaus verdichten kann (Schaffung zusätzlicher Plätze innerhalb der Unterkunft). Dies um Mehrkosten im Zusammenhang mit der Eröffnung einer neuen Unterkunft zu ver- meiden.
- Im Zentrum Lilienberg gibt es neun Küchen von rund 12 Quadratmetern Fläche und 35 Zimmern. In diesen waren im April 2022 88 Ju- gendliche untergebracht, denen im Schnitt eine Wohnfläche von 5,6 Quadratmetern zur Verfügung stehen. Es gibt keine Aufentaltsräume für «Wohngruppen», in dem sich eine Gruppe von Jugendlichen essen oder mit den Bezugspersonen treffen könnten. Es gibt auch keine Möglichkeit für individuelles Lernen. Den 88 Jugendlichen stehen 11 WCs und 11 Duschen zur Verfügung.
- Pauschale und Infrastrukturkosten 175.60 CHF statt 147.80 CHF. Quelle: Antwort auf Dringliche Schriftliche Anfrage von SP und AL GR 2019/65 vom 20.03.2019, Seite 2.
- Der Gemeinderat der Stadt Zürich hat den Stadtrat mit Motion 2020/243 aufgefordert, neue Rechtsgrundlagen für die AOZ mit Mindeststandards für Leistungserbringung auszuarbeiten. Der Stadtrat hat 2021 die erstmalig erlassene Eigentümerstrategie verabschiedet, in der die AOZ aufgefordert wird, Mindeststandards für Drittaufträge in Form von Reglementen zu definieren, eine Totalrevision des AOZ-Leistungsauftrags verabschiedet und die vom Verwaltungsrat der AOZ erlassenen Reglemente mit ersten Mindeststandards genehmigt.
- «Art. 8 Die besonderen Bedürfnisse der vulnerablen Personen werden folgendermassen berücksichtigt: a. Information über spezifische interne Leistungen; b. Information über spezifische interne Beratungsangebote; c. Information über spezifische externe Beratungs- und Beschwerdestellen.»
- Antrag des Stadtrats vom 11. Mai 2022: «Finanzverwaltung, Nachtragskredite I. Serie 2022, berichtigte Version Seite 17.