Wenn Sie sich in den letzten Jahren einer Knieoperation unterziehen mussten, kennen Sie womöglich das Medikament Xarelto®. Es verhindert die Bildung von Blutgerinnseln und beugt Thrombosen und Schlaganfällen vor. Das Medikament ist wirksam und gut verträglich. Gut verträglich ist Xarelto® auch für das Geschäft der Pharmafirmen. Das Präparat ist ein Blockbuster und erzielte in den USA innerhalb von 5 Jahren eine Preissteigerung von mehr als 70% und hat in Europa im vorletzten Jahr der Firma Bayer mehr als 4 Milliarden Euro in die Kasse gespült. Bei Krebsmedikamenten steigen die Preise noch steiler an. Ermöglicht werden solche Zahlen mitunter durch das aktuelle Patentsystem.
Patente sollen Innovation fördern, indem sie den Inhaber*innen einen zeitlich befristeten Wettbewerbsvorteil verschaffen, der den grossen Aufwand für Forschung und Entwicklung aufwiegen soll. Insbesondere die klinischen Testphasen vor der Zulassung eines Medikaments sind aufgrund der hohen Standards kostspielig und können privatwirtschaftlich nur von grossen Pharmafirmen im geforderten Umfang durchgeführt werden. Ebenso kostenintensiv ist die Grundlagenforschung und nur wenige Forschungsvorhaben führen zur Entwicklung eines marktfähigen Medikaments. Viele Innovationen werden von kleinen Firmen vorangetrieben und haben ihren Ursprung in der universitären Grundlagenforschung, die vom Staat subventioniert wird. Zeichnet sich eine erfolgversprechende und patentwürdige Entdeckung ab, werden diese kleinen Firmen von den Pharmariesen aufgekauft. Auf diese Art können Letztere einen Grossteil der Forschungskosten externalisieren.
Ihre Machtstellung nutzen die Pharmakonzerne auch bei der Einreichung von Patenten. Hinter dem umgangssprachlichen «einen» Patent für ein Medikament stecken Dutzende und diese werden in verschiedenen Ländern separat beantragt und vergeben. Patentämter werden mit Anträgen überschwemmt und sind nicht selten mit mangelhaften Ressourcen ausgestattet. Nicht alle Anträge sind nämlich berechtigt: Beim europäischen Patentamt werden doppelt so viele Pharma-Patente angefochten als durchschnittlich in anderen Branchen und insgesamt zwei Drittel der eingereichten Patente müssen abgeändert oder zurückgezogen werden. Patentiert werden sowohl der Wirkstoff – Stoffschutz – als auch die Verwendungszwecke. Dies eröffnet den Firmen Spielraum für das Evergreening, eine Praktik, bei der Patentinhaber*innen in regelmässigen Abständen neue Patente beantragen und damit ihr Ausschliesslichkeitsrecht um viele Jahre verlängern – bei Xarelto® beträgt der Patentschutz in den USA aktuell mehr als dreissig Jahre. Wird eine neue Wirkung eines Medikaments entdeckt, kann die Anwendung durch die Firma blockiert werden – zu Lasten der öffentlichen Gesundheit. Auch die hohen Medikamentenpreise werden zunehmend zur Belastung. In den USA haben Pharmafirmen bei der Preissetzung freie Hand, nicht zuletzt aufgrund massiver Lobbyarbeit zur Verhinderung von Preiskontrollen. Da der amerikanische Preis in anderen Industrienationen als Richtwert gilt, klettert der Shareholder-Value auf dem Buckel der Allgemeinheit in die Höhe.
Dass der Bundesrat diese Praktiken toleriert, zeigt der Avastin®/Lucentis®-Skandal. Roche verkauft Avastin® zur Behandlung von Krebsleiden und hat aus der gleichen Substanz ein weiteres Medikament entwickelt. Dieses wird unter dem Namen Lucentis® gegen die altersbedingte Makuladegeneration eingesetzt. Gegen die Augenerkrankung sind beide Medikamente wirksam, doch nur Lucentis® wird von der Krankenkasse übernommen – zu einem mindestens 12x höheren Preis. In der Schweiz schlagen die Behandlungen jährlich mit unglaublichen 50 Millionen Franken zu Buche, wobei sie mit gleicher Wirkung zu einem Bruchteil der Kosten angeboten werden könnte. Entsprechend gering ist der Anreiz für Roche, eine Neuzulassung anzustreben. Das Problem ist seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt und wurde dem Bundesrat mehrfach erfolglos vorgelegt. Eine Gesetzesänderung könnte diesen Praktiken eine Schranke setzen, wird jedoch mit dem Argument des Markteingriffs abgewehrt.
Viele dringend benötigte Innovationen, wie die Entwicklung von Antibiotika gegen multiresistente Keime, gehorchen nicht der Sachlogik, die durch Patente, Shareholder und Monopole diktiert wird. Für die langfristige Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit muss eine bedarfsorientierte Pharmapolitik unter demokratischer Kontrolle aufgebaut werden. Der Verkauf von Novartis’ Generika- und Antibiotikasparte Sandoz an den Bund wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Auch auf internationaler Ebene muss die Kooperation ausgebaut und die WHO in ihrer Rolle gestärkt werden. Das aktuelle WHO-Budget beträgt mit einer halben Milliarde US-Dollar wenig mehr als der Betriebsertrag des Stadtspitals Triemli im Jahr 2019. Durch die Erhöhung des WHO-Regelbeitrags kann die Schweiz dazu beitragen, dass offene Patente und multinationale Zusammenschlüsse zur Finanzierung von Studien keine Zukunftsmusik bleiben.