An der letzten Sitzung vor den Frühlingsferien haben ihn seine KollegInnen im Stadtrat als Vorsteher des Tiefbau- und Entsorgungsdepartements verabschiedet, am 3. Mai hat Richard Wolff seinen letzten Arbeitstag, und im Gespräch mit Nicole Soland blickt er auf seine neun Jahre als Stadtrat zurück.
Im Interview zu Ihrer Stadtratskandidatur im P.S. vom 13. Dezember 2012 wurden Sie danach gefragt, weshalb Sie nach so langer Zeit als Aktivist doch noch Exekutivpolitiker werden wollten. Sie sagten, «ich wollte Verantwortung übernehmen. Und nach 30 Jahren Kritik an der institutionalisierten Politik ist es für mich an der Zeit, zu zeigen, was man anders und besser machen könnte». Wie sehen Sie das heute?
Richard Wolff: Als Mensch, der sich im nicht-institutionellen Rahmen politisch betätigte, aber auch als Gemeinderat genoss ich eine gewisse Narrenfreiheit: Ich konnte verlangen, sagen, beantragen, was ich für nötig und richtig hielt. Ein Exekutivpolitiker jedoch, und das habe ich seinerzeit wohl etwas unterschätzt, ist viel weniger frei. Der Wunsch, Verantwortung zu übernehmen, ging in Erfüllung, aber mit der Verantwortung folgt auch die Tatsache, dass das, wofür man sich einsetzen und Verantwortung übernehmen will, zu guter Letzt mehrheitsfähig sein muss.
Mit der Freiheit ist es als Exekutivmitglied vorbei?
In ihrem eigenen Bereich können die Mitglieder des Stadtrats sehr wohl Forderungen stellen, und das habe ich auch getan. Doch bevor es an die Umsetzung geht, gilt es stets, die eigenen Wünsche durch den Stadtrat zu bringen, meist auch durch den Gemeinderat, und manchmal wird bekanntlich erst an der Urne definitiv entschieden. Daraus folgt mit der Zeit eine Um-Orientierung hin zu Zielen, die nicht nur erstrebenswert sind, sondern bei denen auch die Chance besteht, dass sie sich realisieren lassen. Damit einher geht auch eine Priorisierung: Aktuell steht departementsunabhängig die Klimapolitik ganz weit oben auf der Traktandenliste, und anderes rückt nach hinten.
Der Job als Stadtrat war schwieriger, als Sie gedacht hatten?
Die Umsetzung ist oft schwierig, weil beispielsweise Prozesse dahinter stecken, die vor Jahren – noch unter ‹fremder› Federführung – ihren Anfang nahmen, oder weil die Rahmenbedingungen, die das eigene Projekt flankieren, mächtiger und grösser sind, als es auf den ersten Blick scheint. Das soll jetzt aber keine Entschuldigung sein: Es braucht unabhängig davon stets Geduld, Ausdauer, Hartnäckigkeit und nicht zuletzt genügend Zeit, um Projekte zu einem guten Abschluss zu bringen. Es hilft denn auch, wenn man länger im selben Departement arbeiten kann und nicht wie ich in einem fünf und einem anderen vier Jahre.
Was ist Ihnen rückblickend besonders gut gelungen, und wie gut konnten Sie als Sicherheits- und als Tiefbauvorsteher Ihre langjährigen Erfahrungen als links-grüner Stadtentwicklungs-, Wohnbau-, Umwelt- und Verkehrsaktivist einbringen?
In der Verkehrspolitik konnte ich zu einer Richtungsänderung beitragen, und es hat mich sehr gefreut, dass die Stimmberechtigten den kommunalen Richtplan Verkehr gutgeheissen haben. Die fast flächendeckende Einführung von Tempo 30 ist ein weiterer Erfolg, der grundlegend ist für die Verkehrspolitik der Stadt. Bei den Velovorzugsrouten ist, auch dank der Veloinitiative, nun alles parat für die Umsetzung, und auch die Zusammenarbeit zwischen dem Tiefbau- und Entsorgungsdepartement und anderen Departementen und Ämtern, insbesondere der Dienstabteilung Verkehr, ist sehr gut. Letztere und das Tiefbauamt verfolgen heute dieselben Ziele, was einen Riesenschritt nach vorne bedeutet.
An der Umsetzung von Tempo 30 haben bereits Ihre VorgängerInnen im Stadtrat gearbeitet.
Natürlich, bei Tempo 30 konnte ich die Umsetzung der ‹zweiten Welle› anpacken, als ich 2013 als Polizeivorstand anfing. Damals waren von rund 140 000 EinwohnerInnen, die übermässigem Strassenlärm ausgesetzt waren, erst zirka 17 Prozent entlastet, es gab somit noch viel zu tun. Es brauchte unter anderem Einsprachen des VCS und Gerichtsentscheide, bis es endlich vorwärts gehen konnte. Tempo 30 ist deshalb auch ein gutes Beispiel dafür, weshalb es oft von Vorteil ist, als Stadtrat sieben, acht oder noch mehr Jahre am selben Thema dranbleiben zu können. Eigentlich geht das, was in Sachen Tempo 30 heute umgesetzt werden kann, bis auf den EVP-Stadtrat Ruedi Aeschbacher zurück, der in den 1980er-Jahren als ‹Schwellen-Ruedi› bekannt wurde, weil er als eine der ersten Verkehrsberuhigungsmassnahmen in Zürich Schwellen auf Quartierstrassen einbauen liess – und etwa auch den Röntgenplatz vom Verkehr befreite.
Auf welchen Beitrag zur Zürcher Verkehrspolitik sind Sie stolz?
Die Umverteilung des Strassenraumes habe ich schon propagiert, als ich noch Dozent für Stadtentwicklung und Mitglied des Gemeinderats war: Die Strasse gehört nicht vor allem den Autos, sie ist ein öffentlicher Raum, ein Lebensraum, sie gehört uns allen. Was diesen Perspektivenwechsel betrifft, sind wir unterdessen einen Schritt weiter. Auch der Abbau von Parkplätzen im öffentlichen Raum, über den man früher nicht laut reden durfte, ist heute kein Tabu mehr, sondern hat grundsätzlich eine politische Mehrheit.
Über Parkplätze wird aber, wie eh und je, vehement gestritten …
Aber die Anzahl Parkplätze ist keine unhinterfragbare Grösse mehr. Heute dreht sich der Streit eher darum, ob und in welchem Ausmass der Abbau an einem bestimmten Ort richtig sei. Dass ein grösserer Teil des Strassenraums als bisher den Velofahrerinnen und Fussgängern gehören muss, ist ebenso unbestritten wie die dazu gehörende Klimadebatte: Es braucht mehr Grün im Strassenraum, es braucht mehr Bäume – und auch mehr grosse Bäume – in der Stadt. Die Dienstabteilung Grün Stadt Zürich wurde stark aufgewertet, und ich bin sehr zufrieden mit dem damit verbundenen Wandel hin zu mehr Grün für Zürich. Zudem ist das Netto-Null-Ziel bei der Wärmeversorgung dank Entsorgung + Recycling Zürich in Griffweite gerückt. Fernwärme aus der Kehrichtverwertung trägt massgeblich dazu bei. Das Tiefbau- und Entsorgungsdepartement ist insofern ein dankbares Departement, als hier jene Themen bearbeitet werden, die zurzeit zuoberst auf der städtischen Traktandenliste stehen.
Sie waren einst Aktivist und beenden Ihr Berufsleben als Exekutivpolitiker: Haben Sie sich eigentlich als «der Aktivist unter den Stadträten» gefühlt?
Ja, verglichen mit den anderen StadträtInnen schon, ich brachte schliesslich dreissig Jahre Erfahrung aus jenem Umfeld mit. Ich habe aber auch mein Hobby zum Beruf gemacht, und insofern war die institutionelle Politik eine der möglichen Konsequenzen. Kommt hinzu, dass meine Wahl damals doch ein bisschen überraschend war.
Wie hat es sich angefühlt, als AL-Stadtrat einerseits zur rot-grünen Mehrheit zu gehören und andererseits ‹nur› der Vertreter einer kleinen Partei zu sein?
Ich habe grundsätzlich versucht, gegen aussen eine gemeinsame Politik zu vertreten als der Teil des Ganzen, der ich war. Bei Sachfragen habe ich bisweilen anders gewichtet und mich damit unterschieden von Links-Grün – und bin mit meiner Minderheitenposition unterlegen. Aber in weitaus den meisten Fällen war ich bei der rot-grünen Mehrheit. Dass ich in der Verkehrspolitik gern mehr erreicht hätte und das obendrein schneller, ist ein Fakt, doch auch hier galt es, Rücksicht auf die grosspolitische Wetterlage zu nehmen, um soviel wie möglich zu erreichen. Das hat gut geklappt, finde ich: Angesichts der natürlicherweise stark divergierenden Interessen ist der Zürcher Stadtrat recht harmonisch unterwegs.
Im P.S.-Interview vom Dezember 2012 bemängelten Sie, es gebe keinen Grund, so «vorsichtig, zögerlich, ja mutlos» zu Werke zu gehen, wie der Stadtrat das zum Teil tue. Harmonie in Ehren: Wo sehen Sie rückblickend Geschäfte, bei denen Sie als Stadtrat selber zu zögerlich unterwegs waren?
Gefühlsmässig würde ich sagen, dass ich in der Verkehrspolitik manchmal noch mutiger hätte sein können. In der Sozialpolitik war Raphael Golta mutig, als er die Basishilfe brachte, doch wie immer in solchen Fällen besteht das Risiko, vom Kanton oder einem Gericht zurückgepfiffen zu werden, was hier ja auch geschah. Was jenen, die den Stadtrat von aussen betrachten, als «mutlos» erscheint, ist häufig bloss das Vorwegnehmen dessen, was kommen könnte, gefolgt von der Entscheidung, es nicht auf einen Streit mit dem Kanton und/oder einem Gericht ankommen zu lassen, wenn einem ein solcher Streit nicht besonders erfolgversprechend erscheint. Es spielt zudem eine Rolle, wie sich der Stadtrat als Ganzes versteht: Was nach Aussen den Eindruck erwecken kann, er sei etwas verhalten unterwegs, ist oft einfach Ausdruck von Konkordanz und Stabilität. Das hat auch Vorteile, zum Beispiel wird der Zürcher Stadtrat nicht ständig kritisiert und infrage gestellt wie zurzeit der Bundesrat: Die ZürcherInnen vertrauen darauf, dass ihr Stadtrat seinen Job gut macht.
In Ihrer jüngst präsentierten Dachstrategie für ein klimaneutrales und lebenswertes Zürich heisst es, dieses Ziel soll erreicht werden, «indem der Anteil des Fuss-, Velo- und öffentlichen Verkehrs erhöht wird und in allen Quartieren attraktive Freiräume geschaffen werden». Mit Verlaub: Das war doch bereits das Ziel, als Sie Ihr Amt antraten.
Das war immer schon das Ziel, klar, doch in den letzten vier Jahren hat es diesbezüglich eine dramatische Zäsur gegeben: Wir haben Greta Thunberg erlebt und die Klimajugend – und wie sich innert kürzester Zeit ein politischer Wandel ereignet hat und wie das Klima in Windeseile auf Platz Eins der Traktandenliste vorrückte und trotz Corona und Krieg in der Ukraine nach wie vor weit oben steht. Zum Vergleich: Die 2000-Watt-Gesellschaft, die wir mit der Volksabstimmung vom 30. November 2008 in der Gemeindeordnung verankerten, war damals utopisch. Heute ist sie bereits überholt, heute sind wir unterwegs in Richtung Netto-Null.
Vor Ihrem Wechsel ins Tiefbau- und Entsorgungsdepartement, von 2013 bis 2018, waren Sie Polizeivorsteher: Von aussen hat man nicht immer gemerkt, dass ein Aktivist in der Exekutive sass, beispielsweise beim Vorgehen der Polizei gegen DemonstrantInnen.
Ich bin froh, dass ich als Polizeivorsteher – die Umbenennung in Sicherheitsdepartement und -vorsteher erfolgte während meiner Amtszeit – das Projekt PiuS umgesetzt habe, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Abkürzung steht für «Polizeiarbeit in urbanen Spannungsfeldern», und wir nahmen uns vier Themen an: dem Vorgehen bei Personenkontrollen, der Sicherheit der BeamtInnen, einem Versuch mit Body-Cams sowie der Frage, ob es in Zusammenhang mit der Polizeiarbeit eine eigene unabhängige Beschwerdeinstanz brauche. Vieles konnten wir verbessern. Es wäre schön gewesen, wenn ich länger in meinem ersten Departement hätte bleiben können, denn Veränderungen brauchen Zeit, wie etwa mein Versuch zeigt, mehr Diversität ins Korps zu bringen: Das ist einfacher gesagt als getan, an solchen Aufgaben muss man eine Zeitlang dran bleiben können.
Grundsätzlich: Welches misslungene Vorhaben ärgert Sie rückblickend am meisten, und worauf sind Sie stolz?
Am meisten geärgert hat mich, dass wir die Velomassnahmen an der Hohlstrasse nicht umsetzen konnten, weil die rot-grüne Mehrheit im Gemeinderat dagegen gestimmt hat: Wir hatten viel Arbeit in dieses Projekt gesteckt, und dann wurde es im Parlament abgeschossen – und das von den eigenen Leuten. In der Öffentlichkeit sicher viel bekannter ist die Bellerivestrasse, doch mein Ärger darüber hält sich in Grenzen, diese Geschichte wurde vor allem medial breitgeschlagen. Ansonsten aber überwiegt ganz klar das Positive, ich habe alle Volksabstimmungen gewonnen und konnte vieles in die richtige Richtung aufgleisen.
Zum Ausblick: Was ändert sich für die städtische Politik, wenn kein AL-Vertreter mehr im Stadtrat ist? Und was packen Sie persönlich als nächstes an?
Wenn Rot-Grün schon eine solche Mehrheit hat in der grössten Stadt der Schweiz, dann wäre eine AL-Vertretung im Stadtrat klar eine Bereicherung. Ich finde es schade, dass Walter Angst nicht gewählt und damit die Kontinuität der Regierungsbeteiligung der AL gebrochen wurde. Wir hoffen auf die nächsten Wahlen und bleiben optimistisch. Persönlich freue ich mich darauf, viel mehr Zeit zu haben, Zeit, um ins Kino, Theater, Museum zu gehen – und am nächsten Tag nicht früh aufstehen zu müssen! Im August werde ich 65 und pensioniert, mein formelles Berufsleben endet mit meinem Ausscheiden aus dem Stadtrat. Künftig habe ich somit endlich wieder mehr Zeit für FreundInnen und Familie, aber auch zum Lesen. Nicht zuletzt freue mich darauf, viel Zeit draussen verbringen zu können: Das habe ich in den letzten Jahren vermisst.