Wir sind heute versammelt, weil wir fassungslos sind über den Krieg in der Ukraine, wir sind auf diesem Platz, weil wir dem Irrsinn Einhalt gebieten wollen, weil wir solidarisch sind mit den Menschen in der Ukraine.
Seit einer Woche stehen wir unter dem Schock der Bilder aus diesem Land, wo Raketen in Wohnhäuser einschlagen und militärische wie zivile Einrichtungen dem Erdboden gleichgemacht werden. Wir hören vom Angriff auf ein Atomkraftwerk und wollen uns nicht vorstellen, was geschähe, wenn ein Reaktor getroffen und Radioaktivität austreten würde.
Wir fühlen uns ohnmächtig, dass ein russischer Potentat, der in seinem eigenen Land seit Jahren die Demokratie mit Füssen tritt, seine Armee ins Nachbarland einmarschieren lässt, um Tod und Verwüstung zu sähen.
Die Verurteilung derjenigen, die diesen Krieg angezettelt haben und die Solidarität mit der Bevölkerung der Ukraine, sind unsere ersten unmittelbaren Anliegen. Die Empörung und das Engagement sind notwendig. Aber wir müssen gleichzeitig verstehen und unsere Gedanken ordnen. Der französische Philosoph Edgar Morin hat vor ein paar Tagen in einem Interview gesagt: «Bevor wir uns empören, bevor wir uns engagieren, müssen wir verstehen.»
Wie ist es möglich, dass 20 Jahre nach dem Jugoslawien- und dem Kosovokrieg wieder Krieg auf europäischem Boden ausbricht? Weshalb sollten politische Probleme mit Waffengewalt zu lösen sein, wo wir doch seit jeher wissen, dass kein Krieg kontrollierbar ist? Denn beim Krieg verhält es sich wie beim Virus: Er ist unberechenbar und setzt sich in neuen und noch gefährlicheren Formen immer wieder fort.
Der Vorwand für den aktuellen Krieg ist die Situation in der Ost-Ukraine. Offensichtlich geht es den russischen Machthabern aber um mehr: Sie wollen dem Westen zeigen, dass sie zu allem bereit sind, um die Aufstellung und den Ausbau der NATO-Militärbasen an ihren Grenzen zu verhindern. Dass die bei der Auflösung der Sowjetunion Gorbatschow gegeben Versprechungen eingelöst werden und Russland nicht von feindlichen Armeen umzingelt wird. Ein weiteres Ziel der Machthaber in Moskau ist natürlich auch, in den slawischen Nachbarstaaten eine Einflusssphäre zu behalten.
Machen wir uns keine Illusionen: Die Waffenproduzenten reiben sich die Hände: Wenn Olaf Schulz in Deutschland 100 Milliarden zusätzlich in die Aufrüstung stecken will oder auch hier in der Schweiz bereits lautstark weitere Milliarden für die Armee gefordert werden, dann geht es nicht um den Frieden, sondern um Vorbereitung von Krieg und um fette Gewinne für die Rüstungskonzerne. Wir stehen an einem Abgrund, in welchen nicht nur die Ukraine, sondern ganz Europa und die Welt gerissen werden droht.
Es braucht so schnell wie möglich einen Waffenstillstand und eine Rückkehr an den Verhandlungstisch. Wie kann man sich vorstellen, dass der Abzug der russischen Truppen von der Stationierung anderer ausländischer Militärstreitkräfte gefolgt sein kann, ohne dass es zu einer weiteren Eskalation kommt? Abrüstung und Rückzug ist die einzige Option und zwar auf allen Seiten. Eine Neutralität der Ukraine nach Schweizer Modell ist in der aktuellen Situation vielleicht Wunschdenken, doch wäre sie ein Ausweg aus der Krise.
Bei aller Wut auf Putin: Es ist nicht damit getan, ihn als Verrückten zu bezeichnen. Der ehemalige KGB-Offizier, der sein eigenes Volk unterdrückt, verdient zwar unsere Verachtung. Doch sind es die weltweiten Proteste, also auch und vor allem in seinem eigenen Land, die ihn letztlich dazu bringen werden, der Eskalation der Gewalt ein Ende zu setzen und Verhandlungen aufzunehmen.
Meine Familiengeschichte verbindet mich mit der Ukraine und mit Russland: Mein Grossvater kam aus der Krim nach Zürich, meine Grossmutter aus Weissrussland nicht weit von der ukrainischen Grenze. Beide waren Juden, im Zarenreich war es ihnen nicht erlaubt, zu studieren. Ihre Familien fielen während dem 2. Weltkrieg den Faschisten zum Opfer. In dieser Zeit haben sich meine Ahnen auf die Seite der sowjetischen Befreier geschlagen. Ihre Geschichte ist eine von Millionen Menschen, welche im vergangenen Jahrhundert in dieser Region unterdrückt, gegeneinander aufgehetzt und deportiert worden sind. Bei der Suche nach Lösungen muss die Vergangenheit bekannt sein. Vermeiden wir den Fehler, das ukrainische Volk dem russischen Volk entgegenzustellen. Beide bezahlen den hohen Preis der mehr als hundertjährigen Konfrontation zwischen Ost und West.
Bei aller Wut über den Krieg: Lassen wir uns nicht von Emotionen, sondern vom Verstand leiten. Hören wir nicht auf die heute laut werdenden Stimmen die Vergeltung und kriegerischen Lösungen fordern.
Verstärken wir unseren Protest gegen den Krieg, und fordern wir sofortige Friedensverhandlungen!