Legen wir gleich los: Wir sind gleich alt, Du bist wie ich in den 80-Jahren aus dem Aargau nach Zürich geflüchtet. Wir studierten beide Anglistik. Mich hat weniger die Uni als das Leben ausserhalb sozialisiert und politisiert. Wie wars bei dir?
Recht ähnlich. Konzerte in der Wohlgroth, illegale Bars, Treffpunkte im Brachland neben den Gleisen. Die Lebensschule fand ausserhalb der Uni statt. Die Brotjobs waren oft schäbig, halfen mir jedoch, das Studium abzuschliessen.
Dein Liz schriebst du über simbabwische Literatur. Du hast über drei Jahre dort gelebt.
Ich suchte ein Thema, wollte mich aber nicht in der Bibliothek verschanzen. Ein Freund empfahl mir den jung verstorbenen simbabwischen Autor Dambudzo Marechera. Ich war begeistert. Sekundärliteratur gab es kaum. Also reiste ich nach Harare, wo sich eine Literaturwissenschaftlerin mit seinem Nachlass beschäftigte. Bald hatte ich eine Kartonschachtel unveröffentlichten Materials in den Händen und blieb drei Monate. Dort lernte ich meinen Mann kennen, er kam mit seinen Kindern in die Schweiz, unser Sohn wurde geboren, wir zogen nach Harare – ich fand dort eine Stelle bei einer NGO und wir übten uns im Überleben bei 200% Inflation. 2002 kehrten wir zurück, da war mein Mann bereits todkrank.
Dein Sohn, der Jazzmusiker Tapiwa Svosve, sagte in einem Interview, du habest ihn als Kind an Jazzkonzerte geschleppt. Er bezeichnet Jazz als eine demokratische Form des Musikmachens.
Ich kann mich nur an ein Konzert erinnern, mit Omri Ziegele im Rietberg Museum. Tapiwa war damals 8 Jahre alt und verfolgte fasziniert, wie der Musiker nach ein paar Stücken im Schweiss gebadet war. Er wunderte sich über die alten Leute im Publikum. Seine Aussage hat was: Jazz ist grenzüberschreitend, offen, verbindend und befreiend. Tapiwa hat mir den Jazz nähergebracht, nicht ich ihm.
Deine Jobs waren nie an dein Studium gekoppelt. Du hattest sogar mal ein Autotransportunternehmen.
Ich gab damals den sicheren Job bei der GBH (heute Unia) auf. Für einen «Wackeljob» bei einem ägyptischen Transporteur! Er hatte kein Büro mehr. Das Betreibungsamt hatte seine Lastwagen retiniert. Ich füllte also Zollpapiere in einer schlecht geheizten Garage aus und belud Transporter mit Gebrauchtwagen nach Afrika. Später verwaltete ich für ihn noch ein Frachtschiff. Dann starb er leider und ich und mein Kollege übernahmen die Firma. Dieser Mensch hat mich gelehrt, wie man Misserfolge verdaut und trotzdem weitermacht.
Du warst 10 Jahre lang Geschäftsführerin des Reisebüros Wipkingen. Der Vertrag mit den SBB lief vor einem Jahr aus. Ein herber Verlust auch fürs Quartier!
Ich bin sehr traurig, dass wir schliessen mussten. Wir haben jahrelang alles gegeben. Wir spezialisierten uns auf internationale Bahnreisen, die sich nur schwer online buchen lassen. Wir hielten den Service Public hoch und waren Anlaufstelle für Anliegen weit über das Reisegeschäft hinaus.
Du bist dadurch in Wipkingen/Höngg sehr gut vernetzt, wirst von allen im Quartier gegrüsst. Erwähnt man «die Rote Regula», ist klar, das bist Du!
Haha! Einmal rief mir jemand am Sihlquai um Mitternacht «Hallo, Bahnhof Wipkingen» zu. Der Job hat mich zur lokalen Cervelat-Promi gemacht. Abgesehen vom Abstecher nach Afrika lebe ich aber auch seit 30 Jahren im Quartier.
Willst du noch etwas Werbung für euer Projekt «Wartsaal» machen?
Wir bieten im Bahnhofsgebäude schon lange Kultur an: Lesungen, Ausstellungen, Konzerte etc. Räume sollen vielfach genutzt werden, denn das Raumangebot ist knapp. Der Wartsaal steht dem Quartier für alles Mögliche offen. Wir suchen zwar noch Geld für die Miete, aber wir geben nicht auf. Im Moment stellt eine Künstlergruppe unter «Evidently Chickentown» aus. Mitglied kann man unter www.wartsaal-wipkingen.ch werden!
Du hast länger nachgedacht vor deinem Sprung ins kalte Wasser des Gemeinderats. Wann wurde dir klar: «Ich tue es»?
Stimmt, ich habe mit mir gehadert. Kann ich das, schaff ich es, mich in Details zu vertiefen, ohne die grossen Ziele aus den Augen zu verlieren? Dann stand ich nach einer Zugfahrt durch Schweizer Nieselregen in einem Ramschladen in Langenthal. Du riefst an, und ich sagte «Ja, ich will»!
Du wirst dich in deiner Kommissionsarbeit mit der Stadtentwicklung auseinandersetzen. Aus dem Bauch heraus: Was macht eine Stadt lebenswert?
Der funktionierende Mikrokosmos, die Nachbarschaft, das Quartier als Basis von grossen Ideen für das Zusammenleben verschiedenster Menschen. So etwas wie Jazz vielleicht?
Aus: AL-Info 21/03