In Ihrer Abschlussrede haben Sie die anderen Parteien mit den Positionen in einem Fussballteam verglichen: Die SVP als Abwehrbollwerk gegen Fortschritt, die SP als mutloses Mittelfeld. Wo sehen Sie die AL?
Kaspar Bütikofer: Nun, als einziger Fussballer in meiner Fraktion war ich im FC Kantonsrat Torhüter…
… zur Position des Torhüters passt das Motto «Unruhe bewahren!» der AL aber weniger…
(lacht) Stimmt, die AL ist mehr der unangenehme Stachel im Fleisch der rotgrünen Parteien. Wir hinterfragen die anderen Parteien kritisch, aus einer ökonomisch-analytischen Position. Als kleinste Fraktion reden wir als letzte im Rat, das heisst: Wir hatten oft das letzte Wort.
Jetzt treten Sie nach 14 Jahren aus dem Kantonsrat zurück – und somit auch aus dem FC Kantonsrat. Was war politisch Ihr grösster Patzer?
Bis auf ein paar weniger rhetorische Verhaspler bereue ich eigentlich nichts. Wobei man schon auch erwähnen muss, dass unsere Gestaltungsmacht als kleine Fraktion lange Zeit auch sehr beschränkt war. Als ich 2007 zusammen mit Markus Bischoff in den Kantonsrat gewählt wurde, hatten die SVP und die FDP faktisch die Mehrheit und haben diese zum Teil auch arrogant ausgespielt. Seit den letzten Wahlen hat sich das ein Stück weit geändert, wobei wir immer noch weit weg von der SVP-Mär einer linksgrünen Mehrheit sind.
Wenn man Ihre rund 110 politischen Vorstösse anschaut, drehen sich die meisten um Gesundheitspolitik. Wie sind Sie als Gewerkschafter dazu gekommen?
Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (KSSG) war von Beginn meine Wunschkommission, vor allem auch aus sozialpolitischen Überlegungen. War Gesundheitspolitik noch vor rund zehn Jahren ein Nischenthema, sind heute die Spitalfinanzierung, die Überversorgung, die steigenden Kosten durch Mengenausweitung und die Prämienverbilligungen Themen von zentraler politischer Bedeutung.
Thema Überversorgung: Das ist ja für linke Parteien durchaus ein schwieriges Thema. Wenn Spitäler geschlossen werden, führt das bei der betroffenen Bevölkerung zu emotionalen Reaktionen.
Natürlich ist es ein emotionales Thema. In der Ära Thomas Heiniger (FDP) wurde nie eine bedarfsgerechte Spitalplanung vorgenommen, im Gegenteil: Faktisch alle Spitäler, die wollten, sind auf die Spitalliste gekommen. Heiniger wollte mehr Wettbewerb, aber dieser Pseudowettbewerb führte dazu, dass die Spitäler aufrüsteten; es entstand ein Kampf um PatientInnen mit Zusatzversicherungen, denn ein Spital wirtschaftet mit diesem PatientInnensegment profitabel.
Dies wiederum birgt die Gefahr, dass unnötige Eingriffe vorgenommen werden. Diese Mengenausweitung ist mitunter verantwortlich für die steigenden Krankenkassenprämien. Für den damaligen Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger hatte es den positiven Nebeneffekt, dass er nicht unpopuläre Entscheidungen zur Spitalplanung fällen musste, weil er diese so den Marktkräften überlässt. Das Richterswiler Paracelsus-Spital musste bereits schliessen, andere Spitäler haben ernsthafte Probleme.
Profitiert hat von diesem künstlichen Wettbewerb einzig das Universitätsspital als Endversorgerin und massiv die Hirslanden-Klinik. Das Triemli-Spital dagegen musste dem ökonomischen Druck gehorchend die Bettenkapazität reduzieren. Das neue Spitalplanungs- und -finanzierungsgesetz bietet jetzt die Chance für eine bedarfsgerechte Spitalplanung. Die Entscheidung, wie es weitergeht in der Spitalplanung, liegt allerdings bei Natalie Rickli (SVP).
Das heisst aber auch, dass Spitalschliessungen nicht ausgeschlossen sind?
Wir haben im Kanton Zürich eine gute Spitaldichte, zwischen dem Spital Uster und Wetzikon liegen nur wenige Kilometer. Ich möchte damit nicht sagen, dass eines davon nicht auf die Spitalliste gehört, aber wir haben in einem gut erschlossenen Kanton eine engmaschige Abdeckung.
Die Spitalplanung verlief bisher nach dem Motto «Überleben der Stärksten»: Die Spitäler, die sich nicht mit Zusatzversicherten finanzieren können, gehen zugrunde. Das ist keine transparente Politik und zerstört Infrastrukturen, die wir mit unseren Krankenkassenprämien und Steuern finanziert haben.
Aktuell füllen sich aufgrund der Covid-19-Pandemie wieder die Intensivstationen, der Kanton Zürich musste bereits Patient*innen nach Basel-Stadt verlegen. Die Spitäler beklagen sich, dass das nötige Personal fehlt, um Kapazitäten aufzubauen. Hat man sich in Zürich zu wenig um sein Pflegepersonal gekümmert?
Die Gefahr besteht tatsächlich, dass gut qualifiziertes Personal den Beruf verlässt. Bereits vor der Pandemie gab es die sogenannte Pflegelücke; den nötigen Berufsnachwuchs zu finden, ist eine grosse Herausforderung. Die Arbeitsbedingungen sind hart und haben sich mit der Pandemie noch verschlechtert. Mit blossem Klatschen ändert sich daran nichts.
Was ist dann aus Ihrer Sicht eine politische Antwort darauf?
Sicherlich müsste das Personal entlastet werden, indem die Ausbildung von neuen Pflegefachpersonen gefördert wird. Bei den Fachangestellten Gesundheit gibt es auf der Ebene des Bundes zum Teil positive Ansätze. Bei der höheren Fachbildung hapert es aber massiv. Zentral ist, dass die Abwanderung aus den Pflegeberufen gestoppt werden kann: Die Anstellungsbedingungen müssen attraktiver gestaltet werden, aber auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiger Faktor. Und auch eine Rekrutierung bei den Wiedereinsteiger*innen ist zentral.
Das Problem ist, dass die kantonale Politik nur beschränkt Zugriff auf die Arbeitsbedingungen in den Spitälern hat. Bei den kantonalen Spitälern gilt das kantonale Personalrecht – darauf hat der Kantonsrat einen Einfluss. Aber bei den öffentlichen Spitälern oder Privatkliniken gelten zum Teil kommunale Bestimmungen oder das Obligationenrecht. Natürlich könnte der Kanton striktere Vorgaben beispielsweise durch eine GAV-Pflicht machen, aber das ist in der momentanen politischen Situation leider nicht durchsetzbar.
Auf den Intensivstationen liegen aktuell viele ungeimpfte Covid-19-PatientInnen. Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli meinte neulich gegenüber dem “Tages-Anzeiger”, Impfverweigerer*innen müssten eigentlich auf eine Intensivbehandlung verzichten. Konsequent?
Nein, überhaupt nicht. Ein Grundpfeiler unseres Gesundheitssystems ist, dass jede Person das Recht auf einen Zugang zum Gesundheitssystem hat. Soll jemand, der zu lange an der Sonne lag, nicht mehr für seinen Sonnenbrand behandelt werden? Oder wie sieht es mit der Diabetikerin aus, die zu viel Süssgetränke getrunken hat?
Mit dieser Pseudo-Eigenverantwortungsidee, bei der Jeder und Jede für ein Leben, das nicht produktiv ist, bestraft werden soll, kann man natürlich ideal einen neoliberalen Diskurs über den Abbau im Gesundheitssystem führen. Fakt ist aber, dass ein Impfzwang in der Schweiz keine Option ist. Der Druck auf Ungeimpfte wird in den nächsten Monaten steigen, was ethisch durchaus heikel ist.
Während der Pandemie verzeichneten Essensausgaben einen massiven Anstieg an Bedürftigen; viele Menschen, etwa Sans Papiers, fielen durch die Maschen des Sozialsystems. Hat man in der kantonalen Coronapolitik zu wenig an prekarisierte Menschen gedacht?
Die Pandemie hat sicher viele soziale Probleme sichtbarer gemacht. Für UnternehmerInnen wurden schnell Lösungen gefunden, und die Kurzarbeit hat sich bewährt. Aber gerade für Menschen im Tieflohnsektor reicht ein Lohnersatz von 80 Prozent nicht mehr zum Leben. Hier wurde zuwenig gemacht.
Die Schwelle, ab der Beschäftigten 100 Prozent ihres Lohnes durch die Ausgleichskasse ausbezahlt bekommen, hätte viel höher angesetzt werden müssen. Und auch der Umgang mit Kulturschaffenden hat deutlich gezeigt, wie man im Kanton Zürich mit Menschen umgeht, die nicht in einem Normalarbeitsverhältnis stehen.
Über Patzer haben wir bereits gesprochen. Was waren die grössten politischen Errungenschaften der letzten Jahre?
Der grösste Erfolg ist sicherlich, dass wir seit 2015 Fraktionsstärke im Kantonsrat haben. So wurde unsere Arbeit deutlich sichtbarer, weil wir plötzlich zu allen Geschäften Stellung nehmen konnten. Bei den letzten Wahlen 2019 legten wir neben unseren Hochburgen Zürich und Winterthur auch in ländlichen Wahlbezirken zu.
Im Parlament konnten wir bei den Prämienverbilligungen einen Abbau verhindern; der Kanton ist jetzt sogar gezwungen, sich finanziell mit weit mehr als den vorgesehen 80 Prozent des Bundesbeitrags zu beteiligen. Und wie vorhin erwähnt haben wir auch bei der Spitalpolitik positive Akzente setzten können.
Seit 2017 ist Links-Grün stärker im Kantonsrat vertreten. Was ist möglich?
Dass Links-Grün jetzt stärker vertreten ist, verpflichtet auch. Wir müssen die moderate Gestaltungsmacht, die wir jetzt haben, auch umsetzen. Mit dem neuen Energiegesetz von Baudirektor Martin Neukom (Grüne) sind wir energiepolitisch auf einem guten Weg.
Aber der Kanton Zürich muss in vielen Bereichen aufholen: in der Integration, im Umweltbereich, in der ausserfamiliären Kinderbetreuung. Für letztere sind gerade zwei Vorstösse überwiesen worden, die den Kanton zu einem stärkeren Engagement verpflichten.
Nach 20 Jahren Sparpolitik im Kanton Zürich stehen wir hoffentlich vor einer Zeitwende in der Finanzpolitik: Für weitere Steuersenkungen gibt es keinen Raum mehr, gleichzeitig lässt die wirtschaftliche Lage keine Sparpakete zu. Zudem ist im Kantonsrat immer stärker der politische Wille für ökologische Massnahmen und bedarfsgerechte Kinderbetreuung spürbar. Massnamen die finanziert werden müssen.
Da stellt sich unweigerlich die leidige finanzpolitische Frage: Wie wollen Sie das finanzieren?
Der Kanton Zürich hat in den letzten Jahren ein starkes Bevölkerungswachstum verzeichnet. Die daraus resultierenden Steuereinnahmen sind aber nicht in die Infrastruktur und den Service public, sondern in Steuergeschenke an Wohlhabende und Unternehmen geflossen. Damit müssen wir aufhören und in die Attraktivität des Kantons investieren. Aber auch eine höhere Neuverschuldung und eine Steuererhöhung für Unternehmen sind nicht per se tabu. Die Mär des interkantonalen Steuerwettbewerbs ist schon lange von der Praxis widerlegt worden, wie etwa der Kanton Luzern zeigt. Unternehmen bewerten bei ihren Standortentscheidungen andere Faktoren viel höher.
Zum Schluss nochmals zurück zur Fussballmetapher: Sie wechseln vom Kantonsrat ablösefrei zur Unia. Dort sind Sie seit sechs Jahren als Mitglied Sektorleitung Gewerbe tätig. Warum der Wechsel?
Ich stocke bei der Unia mein Pensum auf 100 Prozent auf. Ich habe immer mehr Dossiers übernommen und es ist immer schwieriger geworden, mir den Montag für den Kantonsrat freizuhalten. Natürlich ist es schade, jetzt aufzuhören, wo wir vermehrt mitgestalten können. Aber nach 14 Jahren ist es auch an der Zeit, jemand Neuem den Platz freizumachen.
Dieses Interview ist in der P.S.-Zeitung erschienen. Hier gehts zum Original.