Die Geschichte der Verdingkinder und der «Kinder der Landstrasse» hat auch mit überbordendem Fürsorgewillen zu tun. Arme Menschen müssen aus ihren üblen Verhältnissen herausgeholt werden, dachten manche, die es ehrlich meinten. Leider wirkte auch so etwas wie Arroganz der Fürsorgemacht mit. Ich plädiere darum für äusserste Zurückhaltung bei der Ausübung von Fürsorgemacht. Das gilt im Umgang mit allen Menschen, deren Möglichkeit, selbst zu bestimmen, beschnitten sind. Wenn Sozialfürsorgeabhängige in Zürich eine städtische Wohnung aus dem Angebot «ambulante Wohnintegration» erhalten, müssen sie einen Miet-/ Betreuungsvertrag unterschreiben. Damit verpflichten sie sich, bestimmte Betreuungsvorgaben zu erfüllen. Ihre Räume werden kontrolliert. Der Zugang zum Haus von einer Loge aus bewacht. Der Vertrag ist befristet und wird nur für wenige Monate verlängert. Immer wieder muss diese Hürde genommen werden.
Das mag richtig sein für die einen. Es ist sicher nicht sinnvoll für alle. Eine Betreuung mit Kontrolle ist nötig, wenn Menschen dies wünschen oder auch, wenn das Umfeld vor übermässigen Immissionen – Dreck und Lärm – geschützt werden muss. Betreuung ist nicht sinnvoll, wenn die Menschen dies ablehnen und tatsächlich nicht brauchen. Denn Personen soll man nicht mittels Erziehung von ihrer Lebensweise, die vielleicht aus Krankheiten oder einer Lebenswahl entspringt, abbringen wollen.
Wie ziemlich alle Menschen streben auch Sozialabhängige ins Sehnsuchtsreich der Freiheit. Sie streben von der Notwohnung ins betreute Wohnen, vom betreuten Wohnen in die eigene Wohnung, selbst wenn sie dies nicht bewältigen würden.
Der Ansatz «Housing First» will diesem Streben gerecht werden; die AL hat ein Postulat dazu eingereicht. Housing First geht davon aus, dass Menschen erst mit einem sicheren Daheim in der Lage sind, ihre anderen Probleme anzugehen und ihre Lebenssituation zu stabilisieren. Die Betroffenen erhalten also zuerst einmal eine Wohnung irgendwo in den Quartieren. Ohne Portier an einer Loge und ohne tägliche Inspektion. Wohnen ohne einen gekoppelten Beherbergungs-/Betreuungsvertrag. Aber mit Ansprechpersonen. Dass dies funktionieren kann, zeigen Erfahrungen aus Wien und Finnland wie neuerdings auch aus Basel.
Das Postulat soll es möglich machen, auch in Zürich auszuprobieren, wie viel Verzicht auf Betreuung möglich ist. Es gibt Einwände, die auf der Hand liegen. Wie ist das mit allfälligem Gestank, mit Immissionen, wenn jemand sich nicht unter Kontrolle hat? Die Antwort ist ebenso klar, ein Basler Verantwortlicher der Heilsarmee spricht es aus: «Dann besteht das Risiko, dass die Person die Wohnung verliert wie sonst jemand auf dem freien Wohnungsmarkt».
Es gibt kooperative und widerständige und sympathische und weniger sympathische Personen unter den Sozialfürsorgeabhängigen. Wie überall. Aber es gibt keinen Grund, sie für grundsätzlich erziehungsbedürftig zu halten. Eine Sozialpolitik gegenüber abhängigen Erwachsenen, die heimlich Erziehungsideen folgt, ist jedenfalls antiquiert. Die Erfahrungen zeigen: Es kann zu Zwang führen und in die Nähe von Umerziehungsideen geraten. Wir müssen möglichst viel Freiheit erproben.