Ich staune über mich selbst, dass ich es so lange im Gemeinderat ausgehalten habe, nämlich über acht Jahre. Vier Jahre Lehrzeit, vier Jahre Bewährungsphase. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt kein «Sitzungsmensch» oder «Sitzmensch», und dann plötzlich diese gefühlten 100 Stunden Sitzung pro Woche. Dann zuhause wieder sitzen, Akten studieren, Anträge formulieren, Voten schreiben. Dann kam die Pandemie, also noch mehr sitzen, sitzen, sitzen. Heute bin ich 8 Kilo schwerer und wahrscheinlich einige Zentimeter kürzer.
Aber ich bin zum Glück nicht nur körperlich auseinandergegangen, sondern tatsächlich in meiner Funktion auch aufgegangen. Die sieben Jahre in der Spezialkommission HBD/STEK, die Auseinandersetzung mit der Materie, mit den Kolleg*innen, dem Stadtrat und den Vertreter*innen der Verwaltung, die einem immer einen Riesensprung voraus sind, haben mir zu meiner grossen Überraschung nebst Zähneknirschen auch immer wieder Freude bereitet. Wie und warum ich gerade in dieser Kommission gelandet bin, weiss ich beim besten Willen nicht mehr. Mein persönliches Umfeld hat sich jedenfalls an den Kopf gelangt. Mein Orientierungssinn ist so lausig, dass ich in Zürich auch heute noch mit ortsfremdem Dialekt Leute nach dem Weg frage. Ich bin eine katastrophale Karten- und Karten-App-Leserin. Ich kämpfe mit meinem räumlichen Vorstellungsvermögen. Ich war auch nie besonders architekturaffin. Ich oute mich hier, weil ich trotz meiner Defizite heute finde, es braucht nebst Architekt*innen, Stadtplaner*innen, Immoexpert*innen oder Baujurist*innen genau auch solche wie mich in den Kommissionen und Parlamenten. Meine Erkenntnis: Hat man mal die Scham, für ignorant zu gelten, abgeworfen und steht zu seinem Laienblick auf die Dinge, dann lebt es sich in diesem Politapparat ungenierter. Das sei hier an all jene ausserhalb der institutionellen Politik gerichtet, die sich ein solches Amt bis jetzt nicht zutrauen.
Ich habe mich in den acht Jahren Gemeinderat jedenfalls vor allem als stinknormale Vertreterin eines Teils der Bewohner*innen von Zürich gesehen und hätte mich – ganz ehrlich – nicht einen Moment lang als Politikerin bezeichnet. Aber ich glaube, über die Jahrzehnte, die ich in Zürich lebe, ein Gespür dafür entwickelt zu haben, was das Leben in dieser Stadt lebenswert macht und was es noch zu fördern oder zu bewahren gilt. Die Zürcher Stadtplanung und -entwicklung irritiert mich. Natürlich muss sie sich mit der Zukunft beschäftigen. Sie sollte aber genauso die Menschen im Auge behalten, die hier und heute in dieser Stadt leben. Die sogenannten «soften» Faktoren, das Nachbarschaftliche, das Gemeinschaftliche, ja, das Zwischenmenschliche, müssen viel mehr ins Zentrum gerückt werden. Sie müssen der Leuchtturm sein, an dem sich das Bauliche ausrichtet. Nicht umgekehrt. Ich bin der festen Überzeugung, dass Wohnsicherheit zum gesunden Selbstwertgefühl des/der Einzelnen beitragen kann. Es braucht dieses Selbstwertgefühl auch, wenn man sich dem Stadtleben aussetzt, der Reibung mit vielen unterschiedlichen Menschengruppen und Lebensentwürfen. Hat man Selbstvertrauen, ist man nicht nur toleranter, man setzt sich auch eher für das Gemeinwohl ein, und die städtische Gemeinschaft kann davon nur profitieren. Es wäre nun also die allerwichtigste Aufgabe einer Stadtregierung überhaupt, dass sie sich mit allen Mitteln dafür einsetzt, den Bewohner*innen diese Wohnsicherheit zu garantieren.
Nun noch ein paar Worte von mir als Vertreterin der AL. Hinter deren Programm, Grundhaltung und eben deren Menschenbild stehe ich mit fast jeder Faser meines politischen Bewusstseins. Einige unserer Mitglieder sind schwierig im Umgang, nicht selten streitsüchtig, in ihrer Ungeduld manchmal einschüchternd, sind nervig wie Moskitos und hartnäckig wie Buntspechte. Die Partei ist nichts für Schwachnervige oder Konfliktscheue. Aber auch nichts für hohle Schwafler*innen oder «Das-Blaue-vom-Himmel-Versprecher*innen». Hat man Scheuklappen auf, werden die einem erbarmungslos vom Gesicht gerissen. Was man im Gegenzug kriegt, ist vieles, z.Bsp., dass das Kind immer beim Namen genannt wird: Politische Utopien werden bei der AL als Utopien deklariert, und dann doch weiterverfolgt. Man stellt sich der Komplexität dieser Welt, und folglich den Konsequenzen, die politische Aktionen auslösen. Das ist zwar sehr häufig «unsexy», aber auch völlig frei von Populismus. Ein anderes Verständnis von Politik kann ich mir nicht vorstellen. Und ich bin dankbar, dass ich in diesem Rahmen für die einzige für mich wählbare Partei in Zürich politisieren durfte. Und wer wie ich will, dass es die AL auch in Zukunft noch gibt, muss im kommenden Februar unbedingt AL wählen und/oder ihr auch gleich beitreten.
Schön an dieser Stelle, dass dies aus dem Mund des Grünen ersten Vizepräsidenten kommt und gestreamt wird!
Das war’s dann von mir. Es gäbe noch viel mehr zu sagen. Wer mein persönliches Debriefing mitverfolgen will, darf gerne mit mir in Kontakt bleiben.
Ich bedanke mich für all die bereichernden Bekanntschaften und Gespräche und ausdrücklich bei allen, die dazu beitragen, dass die Alltagsdemokratie funktioniert.
Andrea Leitner, bald Ex-Gemeinderätin