Es war ein hartes Jahr, es war eine harte Zeit. 2020 war ein Jahr, das vieles veränderte: Aus einer einfachen Grippe wurde eine Pandemie, aus Krankenhäusern und psychiatrischen Kliniken wurden bewachte Anlagen, aus einst offenen, interdisziplinär arbeitenden Spitalabteilungen wurden geschlossene, monothematische COVID19 –Stationen. Und aus unseren Intensivpflegestationen wurden virale Kriegsfelder, in denen – mehr als je zuvor – hart um jedes Leben gekämpft wurde. Viele konnten auf diese Weise gerettet werden, andere wiederum nicht. Darunter auch manche unserer Arbeitskolleg_innen, die sich im Einsatz angesteckt haben oder gar in der Folge gestorben sind. Gerade am heutigen Tag ist es wichtig, dass sie nicht vergessen gehen. Denn auch in diesem alles verändernden Jahr haben sie bis zum Schluss ihr Bestes gegeben. Sie alle wussten und wissen, was Gesundheit vor Profit heisst.
2020 war aber auch ein Jahr, das die schlechtesten Seiten der helvetischen Gesundheitspolitik gezeigt hat. Die Liste der Defizite ist lang. Angefangen von einer breiten Unfähigkeit, mit medizinischen Informationen umzugehen, über die unerträgliche Kaltschnäuzigkeit, mit welcher wirtschaftliche Interessen auf Kosten von Leben und Leiden öffentlich verteidigt wurden, bis zur Selbstgefälligkeit, ein neues, unbekanntes Virus – und trotz besorgniserregenden Informationen aus dem Ausland – innert Monaten besiegt haben zu wollen. Mit seinen pandemischen Fingern hat das Jahr 2020 in einer speziell schmerzhaft offenen Wunde rumgestochert, die sich seit Jahrzehnten in jeder Klinik, in jedem Spital und Ambulatorium dieses Landes ausbreitet. Die Rede ist von der Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Von einer Gesetzgebung, die uns zum Wettbewerb statt zur Kooperation ermuntert, von einem stupiden Wettbewerb um rentable Privatversicherte, und einer Vernachlässigung von unrentablen allgemein versicherten Patient_innen und von finanzgesteuerten, aber inhaltsentleerten Organisationen, Reorganisationen, Entwicklungs- und Veränderungsprozessen. Sie alle haben ein anorektisches Gesundheitswesen hinterlassen, auf welches sich dieses Coronavirus leicht einschiessen konnte.
Ohne genügende Personal-, Raum- und Materialressourcen hatte die Pandemie ein leichtes Spiel mit uns. Dass die Situation nicht stärker eskalierte, hat mit unserem Engagement, unserer Professionalität und – auch das muss gesagt werden – unserem Mut zu tun. Wir haben uns nicht – wie die höhere politische Kaste – um Kompetenzen gestritten, sondern haben effizient und pragmatisch reagiert. Dabei haben wir Opfer erbracht und weder uns noch andere geschont. Wir mussten in dieser Notlage aus bereits ausgemergelten Personalpools jede mögliche Arbeitsminute freispielen. Wir mussten lernen, uns mit knappem Schutzmaterial vor einem tödlichen Virus zu schützen. Wir mussten erfahren, was es heisst, radikal zu triagieren und nicht infizierte, nicht akute Patient_innen in die Einsamkeit des Lockdowns zu entlassen. In dieser Ausweglosigkeit, in die uns der permanente Sparzwang gestürzt hatte, kannten wir kein anderes Verb als das „müssen“. Dieses müssen, jenes müssen. Müssen, müssen, müssen, damit der Franken auch während der Pandemie rollt.
Und nun im 2021, in dieser sich bald einstellenden fragilen, neuen Normalität angekommen, stellt sich die Frage, ob wir das Modalverb nicht wechseln sollten. Ich will nämlich nicht mehr müssen. Ich will nicht mehr das Wort „Fachkräftemangel“ akzeptieren müssen, als wäre es ein Naturgesetz. Wir können mehr Ärzt_innen, mehr Hebammen, mehr Pflegepersonal ausbilden. Ich will nicht mehr überarbeitetes und übermüdetes Personal auf den Stationen sehen müssen. Wir können es uns leisten, mehr Personal zu engagieren. Ich will nicht mehr ertragen, wie systemrelevante Jobs in der Pflege, beim Putzpersonal, in der Spitalküche miserabel bezahlt werden. Wir können diesen Menschen mehr Geld für ihre wichtige Arbeit geben. Ich will nicht mehr zwischen meinem Engagement am Arbeitsplatz oder in der Familie oder in der Politik entscheiden müssen. Wir können neue Arbeitszeit- und Karrieremodelle etablieren. Ich will nicht mehr um die Behandlung von „nicht rentablen Patient_innen“ kämpfen müssen. Wir können gerechte Tarifsysteme entwerfen.
Aber dafür braucht es uns alle, und zwar auf jeder möglichen politischen Ebene. Es braucht die Aktion von heute und diejenige von letzter Woche in Lausanne. Es braucht die Informationen auf den Spitalstationen, auf der Strasse und in den Medien. Es braucht die Arbeit in den Verbänden und Gewerkschaften. Es braucht aber auch die Tätigkeit im Parlament. Denn wenn wir schon etwas müssen, dann ist es, dass wir unsere Kräfte vereinen. Wir brauchen eine weisse Welle, eine weisse Lawine, die die gesundheitspolitische Landschaft radikal umgestaltet.
Es war ein hartes Jahr, es ist eine harte Zeit. Wir sind jedoch hart genug, um diesen Kampf zu wagen und auch zu gewinnen.