Mit sagenhaften 107 Stimmen wurde Mischa Schiwow am 19. Mai als Gemeinderatspräsident gewählt! Seine Antrittsrede war nostalgisch und kämpferisch. Wir möchten sie Euch nicht vorenthalten.
Ich bin ein glücklicher Mensch, nicht nur heute. Ich bin glücklich, weil ich in den knapp 60 Jahren, in denen ich auf der Welt bin, so viele verschiedene Realitäten und Menschen kennenlernen durfte, tiefe Einblicke in unsere Welt aber auch in fremde Kulturen gewinnen konnte. Mein Fraktionskollege Willi Wottreng schreibt in seinem Buch «Jenische Reise», dass «Heimat dort ist, wo man liebt». Ja, dann gehören Länder wie Frankreich, Italien, Kolumbien und natürlich die Schweiz zu meiner Heimat.
Zu meinem Glücklichsein gehört der Umstand, dass ich in meinem beruflichen Leben immer machen dürfte, was gleichzeitig mein Hobby ist: Film schauen, Filme vermitteln, Filme ins Kino bringen. Ich habe in Paris an der Sorbonne Filmwissenschaft studiert, ich habe in einer kleinen Vorstadt von Paris ein Kino programmiert. Ich bin nach 16 Jahren Frankreich nach Zürich zurückgekehrt und habe mich als Direktor von Swiss Films um die Promotion von Schweizer Filmen gekümmert, versucht ihn über die Grenzen hinaus bekannt zu machen. Seit 8 Jahren bin ich im Verleih tätig, bringe sowohl Schweizer Filme wie internationale Filme ins Kino.
Mein Glück ist dasjenige von einem Vater von zwei wunderbaren Kindern, die in Paris im Schmelztiegel verschiedener Kulturen geboren und aufgewachsen sind und sich jetzt als Zürcherin und Zürcher betrachten. Seit zwei Jahren bin ich Grossvater: mein Enkel macht mir besondere Freude. Der Austausch über die Generationen hinweg, ist etwas besonders Prägendes.
Von Grossvätern soll an dieser Stelle kurz die Rede sein, Sie werden gleich verstehen weshalb. Meinen Grossvater mütterlicherseits habe ich als kleiner Bub verehrt. Er war Ingenieur, hat Tunnels und Brücken gebaut, mich für unsere Eisenbahn begeistert. Mein Grossvater war ein Humanist und – wie ich erst viel später erfahren habe – Stadtrat im aargauischen Brugg… für die Freisinnigen. Meinen väterlichen Grossvater habe ich nicht gekannt, aber sein Einfluss auf mich war vermutlich nicht minder. Er kam in den 1910er-Jahren aus der Krim in die Schweiz. Seine Familie – wie auch diejenige von meiner Grossmutter – war jüdisch. Im zaristischen Russland fanden Pogrome statt gegen die Juden – ein Studium war für sie dort nicht möglich. Mein Grossvater studierte an der Uni Zürich Medizin, seine zukünftige Frau, die aus Weissrussland kam, ebenfalls. Vielleicht wären die Beiden, wenn nicht 1918 mein Vater auf die Welt gekommen wäre, ins revolutionäre Russland zurückgekehrt. Aber mit einem Säugling auf dem Arm geht man nicht in den Bürgerkrieg. So haben sie sich Anfang 1920er-Jahre einbürgern lassen, haben sich ihrer neuen Heimat verpflichtet gefühlt, ohne die alte zu vergessen. Daheim wurde Deutsch gesprochen, damit mein Vater und sein Bruder sich möglichst integrieren konnten. Ein zweites Mal erlebten sie die Sowjetunion als Befreierin, als die Schlacht in Stalingrad geschlagen war, der Krieg seine Wende nahm und Anfang 1945 die Konzentrations- und Vernichtungslager befreit wurde. Meine russisch-jüdische Familie ist dem Naziterror zum Opfer gefallen, eine Wahrheit, welche in der Familie zwar nie laut ausgesprochen wurde, aber deshalb nicht weniger in den Köpfen präsent war.
Sie müssen sich vorstellen, welches Signal der Sieg über den Faschismus auch in der Schweiz ausgestrahlte. Die kommunistischen Parteien hatten überall grossen Zulauf und Sympathien, auch hier in Zürich. Meine Eltern lernten sich im Schauspielhaus kennen, einem Ort, der in dieser Zeit voll und ganz diesem Aufbruch verpflichtet war.
Ich wuchs in einer «roten Familie» auf, was nicht immer ganz einfach war. Sehr früh wusste ich, dass die Haltung meiner Eltern zu Problemen führen konnte, ihre Arbeitsstellen unsicher waren. War nicht mein Onkel sogar für ein paar Tage in Untersuchungshaft, angeklagt des Landesverrats? Später, erst viel später hatten wir Gewissheit über die Funktionsweise des Schweizer Staats: Als 1989 der Fichenskandal aufflog, kamen die Fichen meiner Eltern zum Vorschein: Dicke Bündel von Beobachtungs- und Telefonabhörprotokollen… die sich von den Stasi-Methoden gar nicht so stark abgehoben. Ich erhielt auch mein kleines Dossier und musste feststellen, dass ich schon als 14-jähriger erstmals erfasst worden war.
Doch hier genug mit Familiengeschichte: Ein politisches Engagement ist nicht nur den Genen verpflichtet, es entsteht vor allem aus der Einsicht, dass die Gesellschaft geändert werden muss. Als ich Zürich 1982 verliess, um in Paris zu studieren, war unsere Stadt noch eine ganz andere: Der Mief war erdrückend, gerade für die Jungen, die sich ein anderes Leben vorgestellten. Den Anliegen der 80er-Jugend wurde mit Unverständnis und vor allem mit Repression begegnet. Alles, was nicht in die Ordnung passte, wurde kriminalisiert – auch die Drogensüchtigen, die es im sauberen Zürich nicht geben durfte. Ich erinnere mich, wie ich in Paris auf den Platzspitz angesprochen worden bin: Zürich hat sich aus der Aussensicht auf den Paradeplatz mit den Banken reduziert und den Needle-Park für die Junkies.
Als ich 1998 mit meiner Familie nach Zürich zurückkehrte, war die Stadt wie ausgewechselt: Es war nicht mehr die Stadt der Verbote, sondern im Gegenteil die Stadt des «Alles ist möglich», eines offen gelebten Hedonismus. Eine üppige Ausgangsszene, Grillpartys am Seeufer, Streetparade und Quartierfeste haben die Stadt lebenswert gemacht. Was war passiert? Politisch: Die Linke hatte in der Stadt die Macht übernommen, längst fällige Reformen endlich in die Wege geleitet. Soziologisch: Die 80er-Bewegung hat sich in ihrer Kreativität durchgesetzt, allerdings zum Preis ihrer Kommerzialisierung.
Hatte sich aber die Stadt völlig verändert, war sie umgekrempelt gewesen wie ein Handschuh? Selbst von meinem ruhigen Hottingen aus, merkte ich schnell, dass es hinter den Wohlfühloasen nach wie vor handfeste Probleme gab: Leute, die an ausgelassenen Festen teilhaben, und diejenigen, die lieber einen Bogen darum machen, weil sie verdächtigt werden könnten. Menschen, die für wenig Geld grosse Pensen absolvieren, lange Arbeitswege in Kauf nehmen oder die horrenden Mieten in der Stadt, die den grössten Teil ihres Einkommens wegfressen. Ich verstehe mein Präsidialjahr in diesem Sinn: Für eine Stadt einstehen, in der Alle Zürcherinnen und Zürcher sind, ob sie jetzt den roten Pass haben oder nicht, eine Aufenthaltsbewilligung oder auch keine, in der Stadt arbeiten oder von der Agglomeration in die Stadt pendeln… Ich stehe ein für dieses Zusammenleben, sich gegenseitig akzeptieren und wertschätzen.
Und machen wir uns nichts vor: Die alten Gegensätze zwischen denjenigen, die besitzen und denjenigen, die nichts haben als ihre Arbeitskraft, bestehen nach wie vor und verstärken sich möglicherweise sogar in diesen Pandemiezeiten. Dieses System darf ruhig beim Namen genannt werden: Es heisst Kapitalismus und ist für mich nicht das letzte Kapitel der Menschheitsgeschichte. Ein System, in dem auf der einen Seite eine Grossbank gerade 20 Milliarden im Finanzcasino riskieren kann… im Wissen, dass sie als «too big to fail» von den Steuerzahlenden gerettet wird. Und auf der anderen Seite ein System, welches gnadenlos ist, wenn jemand nicht das nötige Geld hat, um eine dieser exorbitanten Mieten zu bezahlen. Indignez-vous! Empört Euch! Das vor 10 Jahren von Stéphane Hessel veröffentlichte Pamphlet hat nach wie vor seine Gültigkeit! Vor allem habe ich kein Vertrauen in dieses auf Profit ausgerichtete System, wenn es darum geht, die vielleicht grösste Herausforderung unserer Zeit zu meistern: Die Klimawende, welche wir in den nächsten zehn Jahren vollziehen müssen. Ich erspare Ihnen hier weitere klassenkämpferische Töne. Ich sage nur, dass ich dieser Gesellschaft nie neutral gegenüberstehen werde. Was mich nicht daran hindert, meine Aufgabe hier als Gemeinderatspräsident mit der gebotenen Un- oder Überparteilichkeit wahrzunehmen.
Ein letztes Wort, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu meinem Verständnis meines Präsidiumsjahrs. Wie viele Begegnungen, Feiern, Aperos stattfinden können, werden wir sehen. Hier im Ratssaal möchte ich mich für gegenseitige Respekt einsetzen und soweit das möglich ist auch für eine gewisse Effizienz. Für mich ist es wichtig, dass die verschiedenen Meinungen zu Wort kommen, dafür haben wir schliesslich dieses Parlament. Ob es manchmal notwendig ist, die gleichen Argumente drei, vier Mal zu wiederholen, bezweifle ich. Ich werde die mir zur Verfügung stehenden Mittel, ab 2022 auch die reduzierte Debatte, dafür einsetzen, dass wir den grossen Überhang an eingereichten Vorstössen in den Griff bekommen und abbauen. Aber es ist mir ebenso wichtig, dass die verschiedenen Meinungen und Standpunkte ihren Ausdruck finden.
Ich bin enttäuscht, meine Wahl heute Abend nicht wie vorgesehen mit Ihnen feiern zu können. Ich lasse es mir jedoch nicht nehmen, einen ganz kleinen Teil des vorgesehenen kulturellen Programms hierher in diesen Saal zu bringen: Es ist das Lied « Le Temps des Cerises », interpretiert von meiner Nichte Julia Schiwowa und Dejan Skundric am Akkordeon. « Le Temps des Cerises » ist eines der bekanntesten Lieder der Pariser Kommune, welche just vor 150 Jahren stattgefunden hat.
Mischa Schiwow, Gemeinderatspräsident