Meine Worte an Sie heute stehen unter dem Titel „Stolpersteine – Alter Schmerz und neue Freunde“. Dies ist die dritte Stolperstein-Setzung, in die ich direkt involviert bin. Den Künstler und Erschaffer der Stolpersteine Gunter Demnig habe ich im November 2009 kennen gelernt in Stadtoldendorf, einer alten Kleinstadt im nördlichen Deutschland. Damals setzten wir gemeinsam drei Stolpersteine für drei Mitglieder meiner Familie:
- Meinen Grossvater, Dr. Richard Wolff,
- seine Mutter, Gertrud Wolff,
- und seine Schwester, Marianne Hilb, geborene Wolff.
Weitere zwei Stolpersteine haben wir für den Cousin meines Grossvaters, Wilhelm Matzdorf, und dessen Frau Alice Matzdorf gesetzt.
Mein Grossvater, Dr. Richard Wolff, war zusammen mit seinem Cousin Wilhelm Matzdorf schon 1937 in Stadtoldendorf verhaftet worden. Wegen „Devisenvergehen“ – ein gängiger Vorwurf gegen erfolgreiche, unbescholtene jüdische Unternehmer. Beide wurden zu anderthalb Jahren Haft, mein Grossvater ausserdem zu 100’000 Reichsmark Busse verurteilt. Nach der Verbüssung ihrer Strafe im Zuchthaus Hameln wurden sie direkt ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Dort kamen beide 1940 ums Leben. Offiziell starb mein Grossvater an „Lungenentzündung“. Wie und an was er tatsächlich gestorben ist, weiss ich nicht. Er starb an den unmenschlichen Bedingungen im KZ. Ich sage heute: er wurde ermordet.
Die Mutter meines Grossvaters wurde am 18. August 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert und dort fünf Tage später ermordet. Die Schwester meines Grossvaters wurde zusammen mit ihrer Tochter im Mai 1942 deportiert und 1943 in Treblinka ermordet.
Mein Grossvater, Dr. Richard Wolff, war Teilhaber der Textilfabrik „A. J. Rothschild Söhne“, mit 2000 Arbeiter*innen und Angestellten der grösste Arbeitgeber der Region. Er führte die Fabrik in vierter Generation. Seine Familie hatte die Fabrik 1872 gegründet. Die Fabrikherren-Familien waren Patrons alten Stils. Einen Teil ihrer Gewinne gaben sie in Form von Schenkungen und Stiftungen an ihre Heimatgemeinde zurück. Sie stifteten den Rathaussaal, gründeten das Spital und den Kindergarten und liessen Häuser für ihre Arbeiter erstellen. Auch der lokale Aussichtsturm auf dem Kellberg heisst heute noch der „Eiserne Oskar“, so benannt nach Oskar Wolff, meinem Urgrossvater.
Nach 1937 wurde die Fabrik Stück um Stück „arisiert“, wie das die Nazis nannten, d.h. entschädigungslos enteignet und einem treuen Gefolgsmann der NSDAP übergeben. Die Fabrikantenvillen wurden – zum Teil schon in der Reichspogromnacht im November 1938 – geplündert. Niemand wurde dafür belangt. Der Hausrat verschwand spurlos, mitsamt den Limousinen, dem wertvollen Geschirr, den Teppichen und Kunstgegenständen. Verzeichnisse über die Wertgegenstände gibt es keine. Vermutlich hängen einige der Bilder, die früher die Wohnhäuser meiner Urgrosseltern und Grosseltern schmückten, heute in irgendwelchen Museen oder privaten Kunstsammlungen. Ich weiss es nicht.
Meine Grossmutter Valérie Wolff, in Basel als Schweizerin geboren, konnte sich mit Hilfe ihrer Basler Familie über Berlin in die Schweiz retten. Mein Vater war schon 1936, als er in Deutschland die Schule nicht mehr besuchen durfte, in die Schweiz ins Internat auf dem Rosenberg in St. Gallen geschickt worden. Valérie versuchte verzweifelt, für ihren Ehemann eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Im Dezember 1938 beantragte sie die Ausstellung einer Einreisebewilligung in die Schweiz. Aber die Bescheinigung der Schweizer Gesandtschaft für Richard Wolff blieb – aus mir bis heute unbekannten Gründen – aus.
Mein Grossvater sass damals im Zuchthaus in Hameln. Er hätte vielleicht freikommen können. Er hätte vielleicht ein Visum für die Schweiz erhalten können. Aber es gelang nicht. Er war ja Deutscher. Und meine Grossmutter rechtlich gesehen auch. Sie hatte ihre Schweizer Staatsbürgerschaft bei ihrer Heirat mit einem Deutschen aufgeben müssen. So wollte es damals das Gesetz. Schweizerin konnte sie erst wieder werden, nachdem ihr Mann tot war, ermordet, und sie den Totenschein vorweisen konnte.
Das ist nur die Vorgeschichte der Stolperstein-Setzung. Dabei wäre es vermutlich auch geblieben: der traurige Schluss unserer Familiengeschichte in Stadtoldendorf. Wenn nicht die Geschichte mit den Stolpersteinen passiert wäre.
Arbeiter des Tiefbauamtes setzen in Zürich zwei Stolpersteine
Eines Tages im Jahr 2008 oder 2009 rief mich meine Mutter an, die in der Nähe von Zürich lebte, und erzählte mir von einem Brief, den sie von einem – uns unbekannten – Herrn Meier aus Stadtoldendorf erhalten habe. Herr Meier erklärte auf drei Seiten wortreich, aber äusserst vorsichtig, fast schon entschuldigend, sein etwas rätselhaftes Anliegen. Aus seinen Zeilen war deutlich zu erkennen, dass es ihm schwerfiel, die richtigen Worte zu finden. Er sprach wie ein Schuldiger, der behutsam versuchte, sich den Opfern zu nähern, immer in der Angst, etwas Falsches zu sagen. Er gehöre zu einer Gruppe von historisch engagierten Menschen, die in Stadtoldendorf der ehemaligen jüdischen BewohnerInnen dieses Ortes gedenken wollten. Die Gruppe hatte sich spontan rund um Frau Ute Siegeler gebildet, die selber jüdische Vorfahren hatte, die in der Gegend gelebt hatten.
Herr Meier erklärte meiner Mutter die Idee der Stolpersteine und bat sie um ihr Einverständnis für die Setzung von drei Gedenksteinen in Stadtoldendorf. Sie zögerte und bat mich um Rat. Ich war anfangs sehr skeptisch. Meine ersten Gedanken waren: Was sind das für Leute? Warum machen die das? Was wollen sie von uns? Welche Ideen stehen dahinter, welche Absichten? Ich las den Brief mehrmals. Schliesslich kam ich zum Schluss, dass wir uns einmal melden und mit den Leuten in Stadtoldendorf reden sollten. So trat ich in Kontakt mit Jens Meier, dem Vertreter der lokalen Stolperstein-Initiative. Nach ersten zurückhaltenden Gesprächen begannen wir einander immer mehr zu vertrauen und kamen uns im Lauf der Zeit näher.
Am 15. November 2009 – ein historischer Tag für Stadtoldendorf und unsere Familie -trafen wir zum Festakt in Stadtoldendorf ein: Grosser Bahnhof, ein grosses Empfangskomitee, ein fast ganztägiger Anlass mit Bürgermeister, Oberbürgermeister, gemeinsamer Stolperstein-Setzung, Besichtigungen ehemaliger Wohn- und Wirkstätten unserer Vorfahren, ein Eintrag ins Goldene Buch der Stadt, ein – halböffentlicher – Festanlass mit den Honoratior*innen der Stadt, Schülerchor und Ansprachen der Initiant*innen, des Bürgermeisters und von uns Besuchern. Gekommen waren wir zu fünft. Ich mit zwei Söhnen aus Zürich, mein ältester Sohn aus Wien und David Matzdorf, Enkel des Cousins meines Grossvaters, aus London. Wir übernachteten in der alten Villa meiner Urgrosseltern, die inzwischen zum Luxushotel umfunktioniert worden war.
Nicht alle Familienmitglieder waren gleich angetan davon, dass ich die Stolperstein-Idee unterstützte und für unsere Familie umsetzte. Bitterböse kommentierte eine meiner – aus Deutschland stammenden und in New York lebenden – Tanten das Konzept, in Deutschland der ermordeten Juden ausgerechnet mit Stolpersteinen zu gedenken, heftig ablehnend mit den Worten: „Da können sie ja wieder auf uns herumtrampeln.“ Jahre später besann sie sich dann aber um und bat mich, ihr zu helfen, auch für ihre Eltern Stolpersteine zu setzen. Und so wurden am 30. April 2013 an der Xantenerstrasse 15 in Berlin-Charlottenburg auch für Ernst Richard Hoff und seine Frau Hedwig, geborene Matzdorf, – im Beisein von zwei meiner Söhne – zwei Stolpersteine verlegt.
In all den Jahren sind Jens Meier, einer der Initiant*innen der Stolperstein-Setzung in Stadtoldendorf, und seine Frau zu Freunden unserer Familie geworden. Wir haben sie in der Zwischenzeit mehrmals besucht und stehen in regelmässigem Kontakt. Die Stolpersteine haben uns zusammengebracht. Die Stolpersteine haben auch bewirkt, dass ich alle meine Söhne mit Stadtoldendorf bekannt machen konnte und wir zusammen wieder eine Beziehung zur alten Heimat meines Vaters herstellen konnten.
Ich möchte darum meine Rede mit zwei Zitaten schliessen. Das erste ist von Jens Meier:
“… möglicherweise vergeben, verzeihen könnten nur die Opfer selbst – wir können sie aber nicht befragen! Gleichwohl, die Begegnungen mit den Angehörigenfamilien Siegeler, Matzdorf, Wolff, Hausmann und Rosenhain wirken “heilend”: die Wunden, die die Nazis gerissen haben, können vernarben! Nicht, dass sich ein Kreis schließen würde, aber “Stadtoldendorf” scheint auf dem richtigen “Weg” zu sein – wenn auch mit Verspätung.“
Das zweite Zitat stammt aus meiner Ansprache am Gedenkanlass 2009 in Stadtoldendorf:
“Ist es nicht auch schön und hoffnungsvoll, wie aus soviel Elend, Leid und Schuld neue Freundschaften entstehen können?“
Richard Wolff: Stolpersteine – Alter Schmerz und neue Freunde (PDF)
Hannes Lindenmeyer: Stolpern in Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus (P.S. 27. November 2020)