Bundesgericht: Keine Extrawurst bei der Liegenschaftsbesteuerung
Sowohl das Steuerharmonisierungsgesetz des Bundes (StHG) wie das Zürcher Steuergesetz (StG) verlangen, dass Vermögen zum Verkehrswert besteuert wird; das gilt auch für Liegenschaften. 1998 hat das Bundesgericht zwei Beschwerden von mir und eine Beschwerde des heutigen Tessiner SP-Regierungsrats Manuele Bertoli gegen Dumping-Werte bei der Immobilienbesteuerung gutgeheissen. Im Bewusstsein, dass die Liegenschaftsbewertung keine exakte Wissenschaft ist, hat es in den Leitentscheiden BGE 124 I 145 und 124 I 193 sowie 124 I 159 bis heute gültige Eckwerte und Untergrenzen formuliert:
- Generelle prozentuale Bewertungsrabatte gegenüber den Verkehrs- und Marktwerten sind unzulässig;
- Vermögenssteuerwerte dürfen in keinem Einzelfall 70% und Eigenmietwerte 60% des Verkehrswerts unterschreiten.
Die Reaktion der bürgerlichen Kantonsratsmehrheit auf diese Entscheide liess nicht lange auf sich warten. Parallel zu den Untergrenzen wurden 2001 zwei Obergrenzen ins Steuergesetz eingefügt: 90% bei den Vermögenssteuer- und 70% bei den Eigenmietwerten. Mit einer dagegen erhobenen Beschwerde bin ich in Lausanne abgeblitzt: Trotz erheblicher Bedenken befand das Bundesgericht, eine bundesrechtskonforme Umsetzung sei nicht auszuschliessen (BGE 128 I 240).
Die «Weisung 2009»
Das Zürcher Steuergesetz (StG) verpflichtet den Regierungsrat zum Erlass von Richtlinien zur Liegenschaftsbewertung. Seit 2010 gilt dafür die «Weisung des Regierungsrates an die Steuerbehörden über die Bewertung von Liegenschaften und die Festsetzung der Eigenmietwerte ab Steuerperiode 2009» («Weisung 2009») vom 12. August 2009 (LS 631.32). Sie sieht für Vermögenssteuer- wie Eigenmietwerte eine Formelbewertung auf der Basis pauschalierter Land- und Zeitbauwerte vor. Einmal aufgrund dieser Weisung festgesetzte Vermögenssteuer- oder Eigenmietwerte bleiben unverändert gültig bis zu einer allgemeinen Neubewertung. Früher erfolgte eine solche alle drei bis sechs Jahre. Beim Erlass der «Weisung 2009» hielt der Regierungsrat denn auch als Grundsatz fest (RRB 2009/1243):
«Im Hinblick auf die Entwicklungen des Liegenschaftsmarkts ist es unerlässlich, dass eine gestützt auf die erwähnten steuergesetzlichen Bestimmungen erlassene Bewertungsweisung des Regierungsrates nach einigen Jahren einer Überprüfung unterzogen wird. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Rahmenbedingungen gemäss den steuergesetzlichen Bestimmungen und der Rechtsprechung des Bundesgerichts eingehalten werden.»
Entgegen dieser Absichtserklärung ist seit nun mehr als elf Jahren keine allgemeine Neubewertung erfolgt – trotz massivem Anstieg der Immobilien- und Mietpreise.
Spektakuläre Entscheide von Steuerrekurs- und Verwaltungsgericht
Führt die Formelberechnung ersichtlich zu einem zu tiefen Wert, kann das Steueramt eine individuelle Schätzung vornehmen und den Steuerwert auf 70% des Schätzwerts anheben. Allerdings nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen, so bei Neuerwerb auf Basis des – amtlich bekannten – Kaufpreises oder bei Totalrenovation. Angesichts der immer krasseren Abweichung der Formelwerte von der Marktpreisentwicklung versuchte das Steueramt in letzter Zeit vermehrt, mit individuellen Schätzungen gegenzusteuern, blitzte damit aber bei den Rekursinstanzen ab. In einem spektakulären Entscheid hiess das Steuerrekursgericht am 14. Februar 2020 den Rekurs gegen eine individuelle Neubewertung um +88% gut, nachdem der Betroffene seine Eigentumswohnung verkauft hatte. Am 11. November 2020 doppelte das Verwaltungsgericht in einem ähnlichen Fall nach. Beiden Rekurrenten wurde die sogenannte «Gleichbehandlung im Unrecht» zugebilligt. Beide Gerichte kamen klar zum Schluss, dass die Formelberechnung nach «Weisung 2009» zu viel zu tiefen, bundesrechtswidrigen Vermögenssteuerwerten führe. Da aber die grosse Mehrheit der steuerpflichtigen Liegenschaftsbesitzer*innen weiterhin von diesen verfassungswidrigen Werten profitierten und Regierung und Steueramt keine Anstalten zeigten, dies zu ändern, hätten die Rekurrenten gleichermassen Anspruch auf eine solche verfassungswidrige Besteuerung.
Regierungsrat kneift
Am 7. Oktober 2020 habe ich den Regierungsrat in einem Brief ersucht, diesen Missstand zu beheben und möglichst rasch eine neue Dienstanweisung zu erlassen:
«Als betroffener Mieter und Steuerzahler ersuche ich Sie, möglichst rasch eine neue Dienstanwei-sung für die Festsetzung der Vermögenssteuer- und Eigenmietwerte zu erlassen, die den Verän-derungen auf dem Liegenschaftsmarkt angemessen Rechnung trägt. Ich bitte Sie, mir verbindlich mitzuteilen, ob und bis wann mit einer solchen Neubewertung zu rechnen ist. Falls Sie von einer Neubewertung absehen wollen, bin ich Ihnen dankbar um eine Begründung.»
Die Antwort von Regierungsrat Stocker auf meine konkreten Fragen ist mehr als ausweichend ausgefallen. Das Steuerrekursgericht stütze sich «nicht auf eine fundierte Prüfung des Liegenschaftenmarktes» und man könne sich seinen Aussagen «in dieser pauschalen Form nicht anschliessen». Die Steuerbehörden seien aber daran, den Entscheid «zu prüfen»… Insgesamt erweckt der Regierungsrat den Eindruck, die rasanten Entwicklungen auf dem städtischen und kantonalen Liegenschaftsmarkt seien spurlos an ihm vorbeigegangen. Ein fassbarer Wille zu einem Neuerlass der Dienstanweisung, geschweige denn ein konkreter Zeitplan, sind nicht zu erkennen.
Rekurs beim Verwaltungsgericht
Art. 79 der Kantonsverfassung und das Bundesgerichtsgesetz sehen vor, dass Behördenerlasse auf ihre Recht- und Verfassungsmässigkeit vor Gericht überprüft werden können (sogenannte «abstrakte Normenkontrolle»). Angesichts der Untätigkeit des Regierungsrats habe ich am 3. Dezember beim Verwaltungsgericht einen Rekurs eingereicht gegen die aufgrund der Liegenschaftsteuerung mittlerweile rechtswidrig gewordene «Weisung 2009» und die in der Antwort der Regierung auf meine Zuschrift bekundete fehlende Bereitschaft, eine neue Dienstanweisung zu erlassen. Ich verlange darin, dass das Verwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit der «Weisung 2009» feststellt und den Regierungsrat verbindlich anweist, umgehend eine neue Weisung zu erlassen.
45 – 60% Teuerung: Regierung muss handeln
Die Fakten liegen auf dem Tisch:
- 2008 bekam man auf Kantonsgebiet ein Einfamilienhaus mit vier Zimmern im Median für weniger als 650’000 Franken, 2018 kostete ein vergleichbares Objekt bereits 942’500 Franken. Auch bei Eigentumswohnungen mit vier Zimmern stieg der Medianpreis von 615’000 auf 880’000 Franken. Das ist eine Steigerung um 45% respektive 43%. («Zürcher Immobilienhandel», statistik.info 2019/04)
- Gemäss Erhebungen des Statistischen Amts der Stadt Zürich sind die Verkaufspreise pro m2 Wohnfläche bei Eigentumswohnungen von 7’880 Franken im Jahr 2009 um 60% auf 12’570 Franken im Jahr 2019 gestiegen.
Damit steht fest: auch Vermögenssteuerwerte, die 2009 noch im Bereich von 70 -90% der Verkehrswerte lagen, sind aufgrund der Liegenschaftsteuerung inzwischen weit unter die vom Bundesgericht tolerierte Untergrenze von 70% abgerutscht. Die aktuelle Bewertungspraxis des Kantons verstösst
- gegen das Gebot der Besteuerung des Vermögens zum Verkehrswert (Art. 14 Abs. 1 StHG und § 39 Abs. 1, 3 und 4 StG)
- gegen das Gebot der Rechtsgleichheit und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Art. 8 und 127 Abs. 2 Bundesverfassung sowie Art. 11 und 125 Kantonsverfassung: Ungleichbehandlung von Mieter*innen und Hauseigentümer*innen sowie Besitzer*innen von Liegenschaften und von anderen Vermögenswerten)
- gegen Leitentscheide des Bundesgerichts zur Vermögens- und Eigenmietwertbesteuerung: BGE 124 I 145, 124 I 159 und 124 I 193 (verfassungsmässige Untergrenzen für Vermögenssteuer- und Eigenmietwerte bei 70% und 60% des Marktwerts).
Jetzt muss die Regierung handeln.
Niklaus Scherr
Niklaus Scherr: Immobilienbesteuerung: Der Regierung Beine machen
Rekurs von Niklaus Scherr vom 3. Dezember 2020
Brief von Niklaus Scherr an den Regierungsrat vom 7. Oktober 2020
Antwort von Regierungsrat Ernst Stocker vom 29. Oktober 2020
Entscheid 1 ST.2019.121 des Steuerrekursgerichts vom 14. Februar 2020
Entscheid SB.2020.00088 des Verwaltungsgerichts vom 11. November 2020