Deine Werke haben regelmässig zu Debatten und Inspiration anderer Künstler*innen geführt. Warum?
Ich habe immer in den Rändern der Gesellschaft herumgestochert. Ich wollte mit den Protagonist*innen meiner Bücher einen Perspektivenwechsel anbieten. Besonders stolz bin ich auf mein Buch über die Psychiatrie: «Hirnriss». Damals wurde ich stark kritisiert. Mittlerweile ist klar, dass in den Institutionen Zwangsmassnahmen angewendet wurden.
Auf deiner Webseite begründest du deine GR-Kandidatur mit «Ein bisschen Unruhe muss sein». Wie bist du zur AL gekommen, wo wünschst du dir mehr Unruhe?
Ich bin ein 68er, der Politik fast im Blut hat. Ich lebe seit 50 Jahren im Quartier und war auch hier aktiv – v.a. in der Kulturgruppe der Kalkbreite. Die Kalkbreite sah ich als Gegenstück zur Europaallee, obwohl ich der Kalkbreite heute mehr politischen Mut wünschen würde. Ich suchte etwas, das kulturell, urban und vielfältig ist, Unruhe eben. So bin ich bei der AL gelandet. Ich begrüsse jede Art von Bewegung von unten.
Du warst 17 Jahre lang Vorstandsmitglied der Gesellschaft Minderheiten und bist Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Jenischen und Sinti in der Schweiz. Du setzt dich für die Rechte von Entrechteten und Marginalisierten ein.
Für mich ist es klar, dass es eigentlich keine Randgruppen gibt. Jede Gruppe am Rand hat ihren eigenen Weltmittelpunkt und muss respektiert werden. Dabei geht es nicht darum, eine paternalistische, wohlwollende Haltung einzunehmen, sondern, dass diese Menschen selber zu Wort kommen. Um Ermächtigung von Minderheiten. Viele haben die Vorstellung, dass alle Bürger*innen gleich sind. Wenn aber ganze Gruppen diskriminiert werden, kann man nicht einfach sagen, dass alle gleich sind. Da braucht es eine Minderheitenpolitik. Erstmals überhaupt nimmt mit mir ein Vertreter der jenischen Community Einsitz im Rat. Ich habe von daher eine besondere Sensibilität für Minderheiten und werde mich wie meine Vorgängerin für sie engagieren.
Du hast im September 2020 ein neues Buch rausgebracht, «Jenische Reise». Dein Verlag bezeichnet es als Europas Geschichte von unten.
Das Buch ist mir ein Herzensanliegen. Eine nigerianische Schriftstellerin hat gesagt, wenn man nur eine Geschichte erzählt, entwürdigt man diese Menschen. Es braucht viele Geschichten über die Jenischen. Wenn man nur sagt, dass sie in Wohnwagen leben und ihnen die Kinder weggenommen wurden, ist dies eine Herabsetzung. In meinem Buch erzählt die 1000 jährige Anna von ihren Jahrhunderten, die sie erlebt hat, und jedes Jahrhundert war anders. Anna ist eine widerständige Unterschicht-Frau aus dem schwer definierbaren Milieu der Jenischen.
Wie wurdest du politisiert?
Ich komme aus einem christlich-sozialem Elternhaus. Ich habe mich früher einmal bei einer maoistischen Gruppierung engagiert, weil ich die Gesellschaft fundamental verändern wollte. Ich sehe die Lösung heute nicht in dieser Art von Politik. Mir geht es aber darum, die Gesellschaft etwas menschlicher zu machen.
Was brennt dir parlamentarisch schon jetzt unter den Fingernägeln?
Die städtische Kulturpolitik ist mir heute zu fest auf Wirtschaftsstandortförderung ausgerichtet. Man muss regionale, lokale Tätigkeiten v.a. im Bereich bildende Kunst fördern. Das Überleben vom Art Dock liegt mir speziell am Herzen.
Zum anderen will ich mich quartierpolitisch engagieren. In meinem Quartier geht es momentan vor allem darum, wie wir mit der 24-Stunden-Spassgesellschaft und ihren Auswirkungen umgehen, ohne in einen Sittlichkeitspuritanismus zu fallen. Es braucht einen Schutz der Quartierbevölkerung ohne ein Verdrängen der Randbevölkerung im Quartier. Ich will eine kulturell und sozial bunte Stadt.
Interview: Ezgi Akyol