Richi, fühlst du dich sicher auf dem Velo?
Ich fühle mich sicher. Aber es gibt Situationen, in denen das Adrenalin fliesst. Ich fahre auch Auto und schon die Vorstellung, einen Unfall mit einem Velo zu haben, löst bei mir und vielen anderen grosse Angst aus. Es ist mir deshalb bewusst: Viele fühlen sich nicht überall sicher auf dem Velo. Und das zu ändern, sind wir dran.
Immer wieder taucht der Kanton als Spielverderber auf. Wie eng sind die Handlungsmöglichkeiten der Stadt?
Alle überkommunalen Strassen (grosse Verbindungsachsen/Hauptstrassen) sind in der Hoheit des Kantons. Mit Art. 104 Abs. 2 bis wurde durch die Anti-Stau-Initiative in der kantonalen Verfassung festgeschrieben, dass es bei Veränderungen auf den Kantonsstrassen nicht zu einem Kapazitätsabbau kommen darf. Darum müssen wir z.B. auf der Bellerivestrasse nachweisen, dass ein Spurabbau keine Kapazitätsminderung bringt. Das heisst: keine Reduktion ohne Kompensation.
Die Stadt hat auf kantonalen Strassen nun folgende Möglichkeiten: einfache Massnahmen wie Velostreifenmarkierungen ohne Spurabbau, Roteinfärbungen oder Optimierung der Lichtsignalsteuerung. Dann kann sie das Temporegime ändern, also Tempo 30 verfügen, wenn es dafür keine baulichen Massnahmen braucht. Sobald aber die Infrastruktur baulich verändert wird, braucht es die Zustimmung des Kantons.
Im Bereich Velo kommen sich ganz klar die unterschiedlichen Haltungen von Stadt und Kanton in die Quere. Der Kanton gewichtet nach wie vor die Leistungsfähigkeit für den motorisierten Individualverkehr (MIV) höher als die Veloförderung.
Und wie geht der Stadtrat mit diesem Interessenkonflikt um?
Unsere Strategie ist: erstens weiterzumachen mit Tempo 30. Mit diesem Instrument haben wir die Möglichkeit, den Raum umzuverteilen, denn wenn Tempo 30 gilt, können wir die Fahrbahn deutlich schmaler bauen als für Tempo 50. Den Rest können wir für die Velos oder auch Bäume nutzen. Diese Massnahme ist einfach und schnell umzusetzen.
Gegenwärtig reden wir über eine zweite Welle Tempo 30. Wichtig ist dabei auch, wie wir mit Tempo 30 beim öffentlichen Verkehr umgehen wollen. Falls es zu einer Verlangsamung des öVs kommen sollte, geht es – neben den Vorteilen wie weniger Lärm und mehr Sicherheit – auch um die Frage, wer für die allfälligen Zusatzkosten aufkommen muss.
Zweitens konzentrieren wir uns auf die Parkplätze. Es ist mir ein grosses Anliegen, die Umverteilung des Strassenraums zu diskutieren. Ein parkiertes Auto braucht unverhältnismässig viel Platz. Platz, den wir bekanntermassen nicht haben. Und da haben wir einen grossen Schritt gemacht in der Stadt: Heute ist der Abbau von Parkplätzen kein Tabu mehr. Und so fallen denn auch bei vielen Strassenbauprojekten Parkplätze weg. Dadurch wandeln wir Verkehrsraum zu attraktivem öffentlichem Raum um.
Und drittens: Wir konzentrieren uns heute auf die Quartierstrassen. Wir machen das, was auch die Veloinitiative gefordert hat, nämlich die Vorzugsrouten auf die Quartierstrassen zu verlegen. Zudem darf ab dem 1.1.2021 auch in 30-Zonen der Rechtsvortritt aufgehoben werden. Dadurch haben wir neu die Möglichkeit, die Velostrecken attraktiver zu gestalten und auch sicherer zu machen.
Beispiele für Verbesserungen gibt es z.B. an der Stampfenbachstrasse, der Weinbergstrasse oder auch am Bahnhofquai. Es gibt noch zu tun auf den grossen Verbindungsachsen, zum Beispiel beim Central, ich kriege jeweils einenAdrenalinschub, wenn ich da durchfahren muss. Für den Raum HB/Central habe ich eine grossräumige Gesamtbetrachtung angestossen, mit dem Ziel, den Stadtraum aufzuwerten und die Verkehrsführung zu verbessern.
Wenn Zürich nicht autofrei wird, hat es denn überhaupt jemals Platz für eine «lückenlose» Veloinfrastruktur?
Gewerbe, öffentlicher Verkehr, Mobilitätsbehinderte und Dienstleister*innen werden auch in einem autofreien Zürich den Strassenraum benutzen. Ansonsten würden viele Menschen benachteiligt, die heute aufs Auto angewiesen sind. Eine autofreie Stadt im Sinne von eine Stadt ohne Autos ist deshalb eine Illusion.
Bei jedem Bauprojekt wird heute das Velo berücksichtigt. Hier hat sich eindeutig das Bewusstsein geändert. Das wird mit der Zeit sichtbar werden. Die Menschen, die heute in der Planung sind, denken das Velo mit. Wir schaffen dafür auch neue Stellen: in der Analyse, Planung und Kommunikation. Ziel ist, die heute zum Teil bereits guten Velostrecken (Mühlebachstrasse, Scheuchzerstrasse, Baslerstrasse) auch optimal miteinander zu verbinden, so dass sie eben nicht irgendwo im Nirgendwo enden. Wir brauchen mehr Mut und Innovation in den Strassenbauprojekten und müssen Gewohntes (Leistungsfähigkeit, Parkierung) immer mehr hinterfragen. Hierzu ist es wichtig, nicht nur einzelne Strassenabschnitte, sondern den gesamten Korridor bzw. das Quartier zu betrachten.
Es werden immer wieder andere Städte als leuchtende Beispiele erwähnt: Kopenhagen, Utrecht, Amsterdam. Aber auch Bern. Was machen sie besser als Zürich?
Diese Städte sind zum Teil schon sehr viel länger und konsequenter als Zürich dran, in die Veloinfrastruktur zu investieren. Und unsere Bemühungen heute werden die Änderungen in der Infrastruktur von morgen sein. Diese Städte, ich habe auch einige besucht, die machen das wirklich gut. Und sie verkaufen es auch gut. Sie zeigen, was wirklich funktioniert. Aber auch in diesen Städten gibt es Stellen, die noch nicht optimal sind.
Auch die Stadt Bern ist schon länger daran, velofreundlich zu werden. Sie hat einen grösseren Handlungsspielraum als Zürich, denn praktisch alle Strassen gehören der Gemeinde. Das erleichtert die Umsetzung enorm.
Und weshalb steht Zürich im Vergleich schlechter da?
Der Anteil des öffentlichen Verkehrs ist in der Stadt Zürich sehr hoch, wir haben eines der am dichtesten ausgebauten Netze. Die Stadt wurde sehr früh schon vor allem für das Auto ausgebaut und dann auch für den öV optimiert. Kommt hinzu: Tram und Velo sind keine Freunde, benutzen aber an vielen Stellen dieselbe Fahrbahn. Unfälle geschehen gerade auch deshalb, weil Velofahrer*innen in die Tramschienen geraten. Dagegen gibt es noch keine wirksamen Gegenmassnahmen.
Wie erhöhst du die Sicherheit? Was braucht es in der Stadt wirklich?
Der Wandel in der Stadtverwaltung ist im Gange, das Velo hat Priorität. Tempo 30 ist eine einfache und effektive Massnahme, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen und die gegenseitige Rücksichtnahme zu fördern. Es braucht den Wandel, damit wir eine Velokultur etablieren können. Die Stadt muss so estaltet werden, dass sich die Velofahrer*innen regelkonform verhalten können. Das habe ich in Kopenhagen gesehen: Alle halten sich an die Regeln, weil die Infrastruktur funktioniert. Diesen Wandel vom motorisierten zum öV, Fuss- und Veloverkehr durchzumachen, ist eine zivilisatorische Leistung. Und die Klimadebatte unterstreicht die Notwendigkeit für diesen Wandel. Im Lockdown sind noch mehr Leute aufs Velo umgestiegen. Viele auch auf E-Bike, und das ist gut, denn der Druck steigt, die Strassen sicherer zu bauen. Für mehr Sicherheit sind die gefährlichsten Orte die Schlüsselpunkte: Diese sind erkannt, diese müssen wir rasch verbessern – Hubertus, Bucheggplatz, Limmatquai. Dafür sorgt auch der stadträtliche Schwerpunkt «Sicher Velofahren». Mit diesem Programm werden Mischverkehrsflächen zwischen Velo und Fussgänger*innen aufgehoben, gefährliche Stellen identifiziert und verbessert.
Es braucht verschiedene Anstrengungen: politische Aufträge wie die Velorouteninitiative, Strategien und Pläne, die diesen Willen bekunden, die Berücksichtigung der Velofahrenden und der Fussgänger*innen bei einzelnen Projekten und die Leute in der Verwaltung, mit einem Herz fürs Velo. Und dann braucht es auch ein gutes Miteinander aller am Verkehr Beteiligten. Gerade für die Sicherheit ist es wichtig, dass die Infrastruktur stimmt und sich alle an die Regeln halten können. So können wir letztlich eine Stadt werden, in der auch Kinder, Grosis und Neufahrer*innen sicher unterwegs sind.
Es braucht mehr Mut, grosse Veränderungen einzuleiten. Was für Visionen verwirklichst du?
Wir haben vier grosse Flaggschiff-Projekte zugunsten des Velo- und Fussverkehrs: die Verbindung zwischen Kreis 4 und 5 über das Lettenviadukt Richtung Hohlstrasse und PJZ, das Projekt Langstrassenunterführung, den Stadttunnel, der den HB zwischen Sihlquai und Sihlpost unterfahrbar macht. Und für die Fussgänger*innen den Negrellisteg als Verbindung über die Gleise zwischen Kreis 4 und Kreis 5.
Ausserdem stelle ich ganz generell die Umverteilung des Strassenraums zur Debatte. Bei jedem Projekt werden Velofahrende und Zufussgehende von Anfang an mitgedacht. Ich habe auch Projekte neu planen lassen, weil diese Aspekte nicht oder zu wenig berücksichtigt wurden: Sihlquai, Hardturmstrasse, Bellerivestrasse/Utoquai. An der Bellerivestrasse beispielsweise hätte das Velo in der Fussgängerzone geführt werden sollen. Eine solche Planung ist nicht nachhaltig, es werden neue Konflikte provoziert. Velofahrende und Fussgänger*innen müssen in Zukunft aber noch mehr berücksichtigt werden.
Interview: Dayana Mordasini
Aus AL-Info 4/20