Mit der Visualisierung von geplanten Bauten ist es so eine Sache. Damit man sich ein Bild davon machen kann, was künftig entstehen soll, sind sie unverzichtbar. Dass Investoren sie in möglichst rosigem Licht zeigen wollen, liegt in der Natur der Sache und ist nachvollziehbar. Schwieriger ist es für die Behörden, wenn es um eine Abstimmung geht. § 64 Abs. 1 des Gesetzes über die politischen Rechte nimmt sie in die Pflicht und setzt allfälligem Polit-Marketing enge Grenzen: «Zu einer Abstimmungsvorlage wird ein kurzer, sachlich gefasster und gut verständlicher beleuchtender Bericht verfasst». Die Preisfrage lautet: Wann können Bilder und Visualisierungen von geplanten Bauvorhaben als «sachlich gefasst» gelten?
Comic-Zeichner soll es richten
Eines kann man mit Sicherheit sagen: die zeichnerische «Visualisierung» des künftigen Thurgauerstrasse-Quartiers in der städtischen Abstimmungszeitung genügt dieser Anforderung in keiner Weise.
Die bei einem begabten Comic-Zeichner bestellte «Visualisierung» ist höchst suggestiv. Fassaden und Dächer der geplanten Neubauten kommen in einem bunten Farbmix daher. Die markant betonte Dachbegrünung der drei 60-70m-Hochhäuser und des Schulhaus-Neubaus neben dem Park in der Bildmitte wecken zusammen mit der Baumallee und den Bestandesbauten am unteren Bildrand den Eindruck einer grünen Idylle. Zudem sind die Proportionen vor allem entlang der Thurgauerstrasse massiv verzerrt. Dies ist besonders gut sichtbar an der Eckposition Binzmühle-/Thurgauer-/Hagenholzstrasse. Dort wird das geplante 70m-Hochhaus mit schätzungsweise 25 Geschossen praktisch gleich hoch dargestellt wie das Airgate-Gebäude vis-a-vis mit 12 Geschossen und einer Höhe von rund 40m. Dieser Effekt wird verstärkt durch die gewählte Vogelperspektive – eine Sichtweise, die nicht der realen Wahrnehmung aus Menschensicht entspricht.
Gnehm-Comic bagatellisiert bauliche Dichte
Mit der bunten Kolorierung und den verzerrten Proportionen wird das Spannungsfeld zwischen der extrem hohen baulichen Dichte der geplanten Neuüberbauung (267%) und der bestehenden Nachbarsiedlung in einer Wohnzone 3 mit 90% zulässiger Ausnützung und einer effektiven Nutzungsdichte zwischen 40% und 80% krass bagatellisiert, romantisiert und vernütigt. Diese Bagatellisierung ist umso stossender, als sich die Kontroverse der Referendumsabstimmung zentral um die gewählte Form der Verdichtung und die Massstabssprünge zwischen der bestehenden Siedlung und den Neubauten dreht.
Stimmrechtsrekurs gegen zeichnerisches Greenwashing
Auf der Projekt-Webseite Thurgauerstrasse bezeichnet das Hochbaudepartement die Zeichnung selber als «Stimmungsbild», in der Abstimmungszeitung wird sie als «Vision» charakterisiert. Mit sachlicher Information der Stimmbürger*innen hat das gar nichts zu tun: Das ist buchstäblich Schönfärberei und zeichnerisches Greenwashing. «So nöd!» meinen Christian Häberli, Präsident der IG Grubenacker, AL-Fraktionspräsident Andreas Kirstein und das Referendumskomitee gegen den Gestaltungsplan Thurgauerstrasse. Zusammen mit dem Verfasser haben sie am 12. Oktober beim Bezirksrat einen Stimmrechtsrekurs eingereicht. Unsere Forderung: Der schönfärberische Helgen muss aus der Abstimmungszeitung entfernt und durch eine sachgerechte Illustration ersetzt werden. Zum Beispiel durch das in das Stadtmodell eingefügte amtliche Modellbild der Testplanung, auf dem man die Proportionen der geplanten Neuüberbauung klar erkennen kann:
Gnehm-Comic: Bruch mit bisheriger Praxis
Ein Blick zurück in frühere Abstimmungszeitungen zeigt: Der Gnehm-Comic ist ein Tabubruch und eine Premiere. Auch bei Abstimmungsgeschäften, bei denen die Emotionen hochgingen, hat der Stadtrat bisher stets auf zeichnerische Mätzchen verzichtet.
Bei der Abstimmung über das AL-Referendum gegen den Gestaltungsplan «Stadtraum HB» für die heutige Europaallee im September 2006 zeigte die städtische Abstimmungszeitung das ins Stadtmodell integrierte Modellbild mit den wuchtigen geplanten Klötzen und Hochhäusern – zwar diskret auf eine Spaltenbreite herunterverkleinert und etwas tendenziös kommentiert, aber immerhin.
Sogar ein informativer Grössenvergleich der erlaubten 40 – 80m-Hochhäuser mit bestehenden Bauten wurde den Stimmbürger*innen gezeigt:
2008 und 2011: Korrekte Vorschaubilder bei Zollfreilager und Swissmill-Tower
Im November 2008 ging es um das Referendum gegen die Umzonung des Zollfreilagers, mit dem die AL einen Mindestanteil gemeinnütziger Wohnungen erzwingen wollte. Zahlbare Wohnungen hin oder her: die Visualisierung der geplanten Umnutzung in der Abstimmungszeitung war sachgerecht, wie ein Vorher-Nachher-Vergleich zeigt.
Vorher: In der städtischen Abstimmungszeitung
Heute: Die Bäume müssen noch etwas wachsen, aber sonst sieht es wie versprochen aus. Einzig die zahlbaren Wohnungen fehlen…
Emotional hoch her ging es im Februar 2011 bei der Abstimmung über den Gestaltungsplan für das Swissmill-Mehlsilo am Sihlquai, das in Wipkingen und bei den Aficionados der Badi Unterer Letten wegen des Schattenwurfs heftige Gegenwehr auslöste. Auch hier zeigte die amtliche Visualisierung in der Abstimmungszeitung den geplanten Mehlklotz ziemlich korrekt, der Vorher-Nachher-Vergleich fällt positiv aus.
Hier in der Vorschau in der Abstimmungszeitung:
Und hier in der gebauten Wirklichkeit:
2018: Sachliche Visualisierung der umstrittenen Stadion-Hochhäuser
Auch im November 2018, als die beiden Immo-Hai-Türme der Credit Suisse mit rekordhohen 131 und 137 m im Sperrfeuer der Stadiongegner*innen standen, nahm der Stadtrat bei der Visualisierung in der Abstimmungszeitung nicht Zuflucht zu Vernütigungen und zeigte die beiden Hochhäuser in ihrer ganzen Wucht. Hier ist allerdings zurzeit kein Vorher-Nachher-Vergleich möglich, weil ungewiss ist, ob und wann das Projekt realisiert wird…
«Visionen» und «Stimmungsbilder» statt Fakten: Die Zuflucht des Departements Odermatt zu einer schönfärberischen Comic-Zeichnung markiert einen Verfall der politischen Kultur, den wir so nicht hinnehmen wollen. Von Kanzler Helmut Schmidt stammt das böse Bonmot: «Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.» Hoffen wir, dass sich der Bezirksrat als kundiger Arzt erweist, der André von seinen Verdichtungs-Visionen heilt…
Blog “Gestaltungsplan Thurgauerstrasse: Märlistunde bei André” als PDF
Stimmrechtsrekurs vom 12. Oktober 2020
Medienmappe des Komitees “Rücksichtslos verdichten NEIN!” (10. November 2020)