Dies ergibt der lesenswerte Forschungsbericht der Universität Zürich, den das Zürcher Präsidialdepartement nach einem Gemeinderats-Vorstoss von SP/AL in Auftrag gegeben hat: «Die Beteiligung der Stadt Zürich sowie der Zürcherinnen und Zürcher an Sklaverei und Sklavenhandel vom 17. bis ins 19. Jahrhundert», publiziert am 2. September 2020.
Für uns Heutige mag die Erkenntnis, dass Zürich als «Kolonialist ohne Kolonien» an der Versklavung von Völkern strukturell beteiligt war, allenfalls überraschend sein; aber nicht verständlich ist, warum sich einige aufregen darüber, dass diese Vergangenheit ans Licht kommt. Wir heute in Zürich Lebenden müssen daraus nur die richtigen Lehren ziehen und die Chancen sehen. Wenn wir uns nämlich mit den Nachkommen der versklavten Familien und Gesellschaften auf Augenhöhe auseinandersetzen, können neue internationale Verbindungen gewaltfreier Art entstehen, neue Freundschaften auch. Buchstäblich neue «Entdeckungen», diesmal auf gerechter Basis.
Bereits vor über 15 Jahren, 2003, hat ein AL-Vorstoss im Gemeinderat praktisch dieselben Fragen zur Verstrickung in die Sklaverei aufgeworfen. Damals antwortete der Stadtrat, dass es nicht Aufgabe der Politik sei, zur Thematik Stellung zu nehmen, sondern Sache der Geschichtswissenschaft. Woraus man ersehen kann: Bei gewissen Themen braucht es etwas länger, um dicke Bretter zu bohren. Aber mit Hartnäckigkeit und Klugheit kann man durchkommen.
Die AL hat nun im Gemeinderat von Zürich und in den Parlamenten von Stadt und Kanton Bern erneut Vorstösse eingereicht, welche eindringlich die Frage stellen, ob die Regierungen bereit sind, sich mit den Folgen der bekanntgewordenen Verstrickungen in die Sklaverei auseinanderzusetzen und Forderungen nach Restitutionen ernsthaft zu prüfen. Es geht nicht darum, die Ungerechtigkeiten der Geschichte bis auf die Steinzeit zurück rückgängig machen zu wollen, wie einige Politiker schon polemisch sagen. Es geht darum, sich auf Augenhöhe Menschen zu stellen, die solche Ungerechtigkeiten in ihrer Familiengeschichte heute noch mittragen, mitempfinden und zur Sprache bringen. Es ist eine Bereicherung und eine echte Herausforderung, ihnen so gegenüberzutreten.
Es geht auch nicht um die Übertragung von neuen moralischen Massstäben in die Vergangenheit – die moralischen Massstäbe galten schon damals, zumal die Kolonialisten oft unter Berufung auf die Lehren christlicher Missionare handelten. Hat es doch schon zu jenen Zeiten, als die Völker durch Sklaverei ausgepresst wurden, Widerstand gegen Versklavung, Sklavenhaltung und Sklavenhandel gegeben, auf Seiten der Kolonisierten wie der Kolonisierenden. Übrigens zieht die Konzernverantwortungsinitiative, die Ende November zur Abstimmung kommt, genau solche Lehren aus der Vergangenheit: Indem sie nämlich verhindern will, dass weiter Unrecht verübt und Ausbeutung an Gesellschaften betrieben wird, wofür wir Heutigen später zwingend zur Verantwortung gezogen werden müssten.
Willi Wottreng, Historiker und Buchautor