Velostadt – alle wollen sie: Der Stadtrat, das Parlament, die grosse Mehrheit der Bevölkerung. Nähme man die zahllosen Bekenntnisse zum Veloverkehr, die Richtplaneinträge, überwiesenen Vorstösse, Petitionen und angenommenen Initiativen als Gradmesser, dann müsste Zürich es längst sein. Zudem haben Vereine wie umverkehR und Pro Velo und auch die Critical-Mass-Bewegung in der Stadt eine starke Stimme – man hört ihnen mit maximal offenen Ohren zu.
Auch sind sich alle einig, dass eine lokale Klimapolitik nicht ohne eine aktive Politik für den Langsamverkehr, ergo auch nicht ohne Fahrräder, denkbar ist. Ohne diese Politik lässt sich auch das in der Gemeindeordnung verankerte Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft nicht erreichen. All dessen ist man sich in Zürich bewusst.
Theoretisch – auf dem Papier – und im Geiste sind wir also schon Velostadt: Grundlagen für die praktische Umsetzung bestehen auf allen Staatsebenen, das Stimmvolk hat sie demokratisch bestätigt – wieder und wieder:
- Backup vom Bund: Zurzeit ist das Veloweggesetz des Bundes – ok, etwas wischi-waschi – in der Vernehmlassung (Frist lief am 10.9.ab).
- Backup vom Kanton: Im Herbst 2010 sagte der Kantonsrat Ja zum Veloförderprogramm. 2012 wurde die kantonale Koordinationsstelle Veloverkehr ins Leben gerufen.
- «Städte-Initiative»: 2011 hat die Bevölkerung Ja gesagt zur Förderung des Langsamverkehrs. Damit ist in der Gemeindeordnung verankert, dass der motorisierte Individualverkehr innert 10 Jahren zugunsten von öV, Velo- und Fussverkehr um 10% abnehmen soll.
- Gegenvorschlag zur «Velo-Initiative»: Zusätzlich stimmten 2015 die Stadtzürcher*innen für einen Rahmenkredit von 120 Mio. Franken zum Ausbau von Fahrrad-Infrastruktur.
- «Masterplan und Bauprogramm Velo» (2012): Will Investitionen bis 2025 verdoppeln, die Sicherheit der Velofahrer*innen verbessern und die Zahl velofahrender Kinder und Jugendlicher erhöhen.
Am 27. September kommt die Initiative «Sichere Velorouten für Zürich» vors Volk. Sie fordert innerhalb von 10 Jahren 50 km autofreie und sichere Velorouten – ein Postulat, das eigentlich von den erwähnten Förderungsmassnahmen bereits abgedeckt wäre. Der Stadtrat ist dafür und sehr wahrscheinlich auch die Mehrheit des Stimmvolks.
Die grosse Frage drängt sich auf: Warum steckt Zürich trotz der guten theoretischen Voraussetzungen immer noch in den «Velostadt-Windeln», während Städte wie Amsterdam (ebenso enge Platzverhältnisse) oder Kopenhagen (ehemalige «Autostadt») uns meilenweit voraus sind? Die topographischen Unterschiede können es nicht sein, denn starke Gegenwinde (das Pendant zu «hügelaufwärts») und horizontaler Regen könnten einem dort das Velofahren ebenfalls vermiesen. Tun sie aber nicht. Woran liegt’s also?
Amsterdam kann es sich seit Jahrzehnten nicht leisten, Strassenprojekte ohne sichere Velorouten zu planen. Hat es nicht Platz für alle (wie es in der Innenstadt häufig der Fall ist), erhält das Velo Vorrang. Und Autofahrende sind es gewohnt, sich dem ohne Klage unterzuordnen.
Kopenhagen brüstet sich beinahe etwas damit, dass es gelungen ist, die autoliebenden Dän*innen richtiggehend umzuerziehen. Das Auto gilt in der Stadt heute – leicht zugespitzt formuliert – als Verkehrsmittel für die Versager*innen, die Ewiggestrigen, für jene, die zu blöd sind, die Zeichen der Zeit zu erkennen, und all die aufhalten, die schnell, effizient, günstig und schadlos von A nach B kommen wollen.
Andrea Leitner, AL-Gemeinderätin
Aus AL-Info 3/20