Sehr geehrte Stadträt*innen, sehr geehrte Gemeinderät*innen
Ich erlaube mir ein etwas anderes Rücktrittsschreiben. Denn natürlich habe auch ich sehr viel gelernt hier und für vieles bin ich auch dankbar. Aber die letzten sechs Jahre hier waren für mich vor allem auch schwierig, kräftezehrend und verletzend. Darum möchte ich meine letzte Gemeinderatssitzung mit einem sehr ehrlichen Rücktrittsschreiben beginnen.
Mittwoch für Mittwoch fragte ich mich, welche Gesellschaft wir hier eigentlich abbilden wollen. Meine Gemeinschaft, mein Umfeld, mein Zürich sieht anders aus.
Fast wöchentlich werden hier geflüchtete und migrierte Menschen diffamiert. Sie sprechen von Masseneinwanderung und merken nicht, dass Sie über meine geflüchteten Eltern, über meine Familie sprechen. Weil ich mich nicht nur hier zugehörig fühle, sondern auch in der Türkei – stellen Sie meine Staatsbürgerschaft, meine Loyalität, meine Zugehörigkeit in Frage. Ein SVP-Gemeinderat sagte in einer persönlichen Erklärung über mich: «Mir gönd mal devo us, dass sie ibürgeret isch» und meinte mich daran erinnern zu müssen, dass ich nicht von der kurdischen, sondern von der Zürcher Bevölkerung gewählt wurde – die Empörung im Rat blieb aus.
Als ich in den Gemeinderat gewählt wurde, schrieb der Tagesanzeiger in einem Portrait über mich, dass ich in perfektem Schweizerdeutsch debattierte und Atheistin sei. Als ob das ungewöhnliche Eigenschaften für jemanden mit einem türkischen Namen wären. Wenn ich mich in gewissen Medien äussere, bekomme ich Nachrichten und Kommentare, die mir ebenfalls meine Zugehörigkeit absprechen. «Die AL-Tante kam vermutlich einst auch als Asylsuchende zu uns». «Die einzige Schande ist, dass ausgerechnet Sie Ihre Schnorre auf TeleZüri aufmachen». «Dir raten wir keinerlei Einmischungen in Asylunterkünfte, sonst sehen wir uns gezwungen, an deinem Wohnort aufzukreuzen!». Offenbar sind gewisse Menschen empört darüber, dass ich es wage in der Öffentlichkeit zu sprechen.
Ich bin hier geboren, ich habe hier die Schule besucht. Ich bin sogar in die Pfadi. Ich arbeite hier, mein ganzes Umfeld ist hier, ich engagiere mich hier. Und trotzdem: Offenbar reicht es nicht.
Mein einziges Ziel im Gemeinderat war es Stimmen hörbar zu machen, die sonst nicht gehört werden. Meinungen und Realitäten von Menschen widerzugeben, denen sonst nicht auf Augenhöhe begegnet wird. Ich musste leider feststellen, dass es mir nicht wirklich gelungen ist. Wir kritisieren zu Recht, dass Frauen in der Ratsdebatte und in der Berichterstattung viel zu selten zu Wort kommen. Aber haben Sie sich mal gefragt, wie häufig Nichtweisse und von Rassismus betroffene Menschen hier zu Wort kommen? Wir sind hier so sehr auf uns fixiert, dass wir – auch ich nicht – uns nicht mal die Mühe machen wollten auf Schriftdeutsch zu sprechen, damit Menschen, die kein Mundart können, uns auch verstehen können – geschweige denn mit uns mitdiskutieren können.
Bei vielen Entscheidungen, die wir hier fällen, frage ich mich, ob Sie alle auch so entscheiden würden, wenn Sie direkt davon betroffen wären. Würden Sie akzeptieren, dass Sie nach einer traumatisierenden Flucht mit 5 Anderen in einem 12qm2-Zimmer untergebracht werden? Würden Sie einsehen, dass es für die Glaubhaftigkeit der Sozialhilfe wichtig ist, dass von einem Sozialdetektiv mithilfe von GPS-Trackern überprüft wird, ob das Auto, das Sie ab und zu ausleihen dürfen, wirklich Ihrem Bruder und nicht Ihnen gehört? Was würden Sie machen, wenn sich Ihr Kind in einem fremden Land das Leben nehmen würde, weil es nach der Flucht die vielen Umzüge von Heim zu Heim nicht mehr aushielt – weil das fremde Land keine neue Heimat werden wollte? Mittwoch für Mittwoch wünschte ich mir, dass Sie sich alle unter John Rawls Schleier des Nichtwissens befinden würden. Würden Sie gleich entscheiden?
Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir hier so oft über Parkplätze und Velowege sprechen, während Menschen in Zürich für Gratis-Essen anstehen müssen. Diesen Teil der Gesellschaft bilden wir nämlich ab.
Jedoch bin ich zuversichtlich, dass auch der Zürcher Gemeinderat eines Tages die Stadtzürcher Bevölkerung adäquat abbilden wird. Ich wünsche mir weniger privilegierte Menschen, mehr Menschen of Color, Schwarze Menschen, jüngere Menschen, Frauen*, von Armut betroffene Menschen und Menschen mit einer Beeinträchtigung in den Parlamenten, in den Regierungen, in den Verwaltungen, in den Institutionen und in den Redaktionen und ich wünsche mir, dass diese Menschen dann in diesen Gefässen besser geschützt werden.
Für den Vorstand, Isabel Maiorano:
Der Vorstand bedankt sich bei Ezgi für ihren unermüdlichen Einsatz in den letzten sechs Jahren im Gemeinderat. Sie gab insbesondere migrantischen und geflüchteten Menschen eine Stimme. Sie setzte sich vehement für die Wahrung der Grundrechte ein und kämpfte um die Sichtbarkeit von Menschen, die mitten unter uns leben, aber aufgrund ihrer Herkunft, Religion, Bildung, sozialem Status etc. nicht in den Parlamenten adäquat vertreten sind.