«Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage» heisst es warnend bei Medikamenten. Ein Blick in den Beipackzettel – sprich das amtliche Abstimmungsbüchlein – ist dringend geboten bei der Bundesvorlage Nummer 3, die unterm Titel «Steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten» zur Abstimmung kommt.
Erst eine Mini-Reform…
Es begann eigentlich ganz harmlos. Am 18. Mai 2018 verabschiedete der Bundesrat die Botschaft 18.050 «zu einer Änderung des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten)». Der Maximalabzug für externe Kinderbetreuung sollte von 10’100 auf 25’000 Franken pro Kind erhöht werden. Eine Mini-Reform, gedacht als steuerlicher Erwerbsanreiz für hochqualifizierte Frauen. Ohne grosse finanzielle Auswirkungen: der Bundesrat schätzte die kurzfristigen Ausfälle auf 10 Millionen Franken pro Jahr, längerfristig rechnete er dank dem Beschäftigungsimpuls sogar eher mit zusätzlichen Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen.
…dann ein CVP-Hüftschuss
Insgesamt also nichts Weltbewegendes. Doch der Bundesrat hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ein halbes Jahr vor den Erneuerungswahlen witterte der kurz zuvor nachgerückte Zürcher CVP-Nationalrat Philipp Kutter die Chance, sich vordergründig als Familienpolitiker in Szene zu setzen und gleichzeitig mehrbesseren Haushalten mit Kindern ein Steuergeschenk zu verschaffen. Er preschte mit einem Einzelantrag für eine 50-prozentige Erhöhung des allgemeinen Kinderabzugs von 6’500 auf 10’000 Franken vor. Wie immer, wenn es um die Steuerentlastung der Bessergestellten geht, waren FDP und SVP gleich Feuer und Flamme und der smarte Newcomer aus Wädenswil setzte sich im ersten Durchgang mit 100 zu 92 Stimmen durch. Der Ständerat war allerdings not amused und sagte zweimal, wenn auch knapp, Nein. In der Einigungskonferenz knickte er dann leider ein und im Nationalrat setzten sich CVP-SVP-FDP mit Zweidrittelsmehr gegen SP, Grüne und glp durch.
Steuerbonus für Topverdiener
Der Widerstand des Ständerats und der Linken gegen den CVP-Hüftschuss hatte gute Gründe:
- Aufgrund der steilen Progression der direkten Bundessteuer landen mehr als 70 Prozent der Steuerersparnis bei den obersten 15 Prozent – Familienhaushalten mit einem Bruttoeinkommen von 150’000 Franken und mehr;
- Bezogen auf alle Steuerpflichtigen, auch die ohne Kinder, machen diese Topverdiener-Familien gerade mal 6 Prozent aus;
- Der Rest wird mit Brosamen abgespeist, gut 40 Prozent der Haushalte mit Kindern haben gar nix davon, weil sie aufgrund ihres geringen Einkommens gar keine Bundessteuer bezahlen;
- der Steuerbonus für Topverdiener entzieht der Bundessteuer 370 Mio Franken pro Jahr, davon verlieren die Kantone aufgrund ihres 21.2%-Anteils rund 80 Mio Franken.
Steuergutschriften statt Abzüge beim steuerbaren Einkommen
Anders als die meisten kantonalen Steuern entlastet die direkte Bundessteuer die unteren Einkommen sehr stark und weist oben eine steile Progression auf. Das ist gut so. Es bedeutet gleichzeitig aber auch, dass man mit neuen oder höheren Abzügen bei dieser Beinahe-Reichtumssteuer keine soziale Familienpolitik machen kann. Wenn man die Kosten für die Kinder bei den Steuern berücksichtigen will, dann nicht mit einem Kinderabzug beim steuerbaren Einkommen, sondern mit einer einheitlichen Gutschrift pro Kind auf dem zu entrichtenden Steuerbetrag. Davon würden alle gleichermassen profitieren und Familienhaushalte, die wegen ihres geringen Einkommens keine Bundessteuern zahlen müssen, kämen in Genuss eines finanziellen Zustupfs («negative Einkommenssteuer»). Teilweise verwirklicht ist dieses System – allerdings ohne Gutschriften bei Einkommen unterhalb der Steuerpflicht – seit 2011 bei der Bundessteuer (251 Franken pro Kind) sowie in Baselland (700 Franken), Wallis (300 Franken) und Waadt (einkommensabhängig).
Falscher Titel bleibt
Die Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten bringt Ausfälle von 10 Mio Franken, die massive Erhöhung des Kinderabzugs kostet dagegen 370 Mio Franken. Bleibt die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die Vorlage trotz der kompletten Umkrempelung durch den Antrag Kutter weiterhin unter dem alten Label «steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten» firmiert. Wie ein Blick in die Antragsfahnen zeigt, wurde kein Antrag zur Änderung des mittlerweile eindeutig irreführenden Titels gestellt. Das haben die Linken verpennt, und den Rechten kam der Etikettenschwindel durchaus zupass, um ihr Hauptziel zu verschleiern. Ganz anders bei der Unternehmenssteuerreform: hier mutierte das «Bundesgesetz über die Steuervorlage 17 (SV17)» im Zuge der Beratungen zum wählerwirksameren «Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung (STAF)»…
Niggi Scherr