«Der [N-Wort] hat ein Messer in der Hand»: Der polizeiliche Funkspruch ging laut Recherchen der «Republik» 2015 den 13 Schüssen voraus, die Zürcher Stadtpolizisten auf einen psychisch kranken Mann in Wiedikon abfeuerten. Der Satz will einem ebenso wenig aus dem Sinn wie die von der «Black-Lives-Matter»-Bewegung auch in der Schweiz aufgenommenen Worte des sterbenden George Floyd: «I can’t breathe». Beide Sätze stehen im Kontext von Polizeigewalt. Sie stecken aber auch die Dimension der gesellschaftlichen Tragödie ab, die der tief verankerte Schweizer Rassismus bis zum heutigen Tag auslöst.
Worte haben Kraft
Worte haben Kraft. Man kann sich fragen, wie der Funkspruch gelautet hätte, wäre sein Sender Schwarz gewesen oder der verwirrte Mann Weiss. Hätten die Polizisten dann anders auf den verwirrten Mann reagiert? Hätten sie überhaupt geschossen? Hat der Hinweis auf das N-Wort die Polizisten in Panik versetzt oder das entmenschlichende Element dieser Bezeichnung die Hemmschwelle für die drastische Massnahme gesenkt? Wurde durch den Inhalt des Funkspruchs ein sensibleres, weniger eskalierendes Vorgehen verhindert? Weist die Verwendung des N-Worts im Funkspruch darauf hin, dass von den Polizeikorps alle Persons of Color so bezeichnet werden? Wenn ja, wehren sich nicht-weisse Polizeimitglieder dagegen, aber ohne Erfolg? Oder tun sie das nicht, weil sie in der Minderheit sind? Würden sie es tun, wenn sie in grösserer Zahl vertreten wären?
«Ich kann nicht atmen» geht anderseits weit über das lebensbedrohende Symptom, das gewalttätiger Rassismus auslöst, hinaus. Die Worte haben sich dank der globalen Proteste mit der Kraft eines Lauffeuers in einen Appell verwandelt, der auch die hiesige Gesellschaft zwingt, dem Monster ins Gesicht zu schauen, anstatt das Problem weiter kleinzureden. Soziale, politische und institutionelle Strukturen hindern etliche Mitmenschen am freien Atmen. Das Gefühl der Atemnot ist durch und durch physisch, geht unmittelbar an die Substanz.
Überfälliger Abschied vom «Urschweizer»-Mythos
Wir sind in der Schweiz schon lange ein bunt zusammengewürfelter Haufen, das zeigt sich ausgeprägter in den Zentrumsgebieten des Landes, ist aber überall im Land eine Realität. Die Debatten der letzten Wochen schaffen die Basis, einmal tief durchzuatmen und sich dann endlich, endlich von einem Bild der Schweiz zu verabschieden, das völlig unverdient immer noch in zu vielen Köpfen herumschwirrt: dem einer überdimensionierten Kernschweiz, bestehend aus Urschweizer*innen (wie auch immer die aussehen sollen), Urschweizer Sprache und Urschweizer Werten, der sich alle «Anderen» als Minderheitengrüppli im besten Fall annähern können. Grosse Teile der jüngeren Generationen verstehen sich ganz selbstverständlich bereits als Mitglieder einer Gesellschaft, die auf kultureller, ethnischer und geschlechtlicher Diversität basiert. Das erklärt auch die grosse Vielfalt der Gruppen, die sich mit der «Black-Lives-Matter»-Bewegung solidarisieren. Diesen Gegebenheiten muss der Diskurs über unsere Gesellschaft und den Weg, den sie gehen soll, gerecht werden.
Empathie als Kitt
Seit Jahrzehnten wird von den rechtsbürgerlichen Kräften einerseits oben erwähntes Bild zementiert, anderseits aktiv immer wieder versucht, Keile in die grosse Gruppe der «Anderen» zu treiben, sei dies durch Gesetze, populistische Aktionen oder durch das Schüren von Vorurteilen. Vordergründig geschieht dies, um eine imaginäre «Kernschweiz» zu bewahren. Tatsächlich erhält sie dem Land auf diese Weise eine frei manövrierbare Masse an Arbeitskräften, denen man lieber weniger als mehr Bürgerrechte gibt, damit sie jederzeit dort eingesetzt werden können, wo man sie gerade braucht. Es werden existenzielle Nöte geschaffen – Wohnungsknappheit, unterbezahlte Arbeit etc. – und dazu immer wieder suggeriert, es reiche in diesem Land nicht für alle. Das schafft Atemlosigkeit unter den weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen und das Gerangel um einen möglichst sicheren Platz in der Schweizer Gesellschaft hört so nie auf. Zusätzlich wird dadurch immer wieder verhindert, dass die Menschen Empathie für jene entwickeln, deren Realität sich von der eigenen unterscheidet. Dabei ist es gerade Empathie, die uns als Kitt im Alltag einander näherbringen könnte.
Die Verantwortung der Medien – gegen den Nationalitätenpranger
Den Medien kommt hier eine besondere Stellung zu, denn sie vermögen – wenn sie denn wollen -, über Menschen und Menschengruppen differenziert zu berichten, Einblicke in unterschiedliche Realitäten zu vermitteln, Zusammenhänge herzustellen, ohne die Komplexität von Gesellschaftsgefügen zu verschleiern. Sie können Rassismus verstärken oder helfen, ihn in die Schranken zu weisen. Um letzteres zu garantieren, war es bis 2001 zum Beispiel nicht üblich, die Nationalität im Zusammenhang mit einem Delikt zu publizieren. Die gesellschaftliche Schädlichkeit dieses Nationalitätenprangers konnte seit damals in diversen Studien nachgewiesen werden. Trotzdem hat sich eine Mehrheit des Zürcher Kantonsrats dafür entschieden, ihn wieder einzuführen. Gegen diesen Entscheid haben diverse Gruppen, Parteien und natürlich auch die AL das Referendum ergriffen, dessen Sammelfrist am 30. Juli abläuft.
Wir haben also die Basis für einen sehr breiten Diskurs: die Folgen der Corona-Krise für die schon zuvor Diskriminierten, 50 Jahre Schwarzenbach und was das in unseren Köpfen angerichtet hat, die Anliegen der «Black-Lives-Matter»-Bewegung und die Frage, ob die Medien die Kluft zwischen uns allen vergrössern oder verringern wollen.
Andrea Leitner, AL-Gemeinderätin
Aus AL-Info 2/20