Felix Moser: Die Corona-Welle flaut ab, auch wenn sie noch nicht vorbei ist. Ich staune im Nachhinein, wie bei uns alle Einschränkungen von Grundrechten – von geschlossenen Geschäften bis hin zum Demoverbot – mehr oder weniger gut akzeptiert worden sind. Gingen der AL diese Einschränkungen nicht zu weit?
Andreas Kirstein: In einer Pandemie ist die schnelle Umsetzung von Massnahmen matchentscheidend. Eine vorübergehende Einschränkung der Grundrechte muss deshalb hingenommen werden. Das Ganze ist ja zeitlich begrenzt und hat eine gesetzliche Grundlage. Heute wissen wir, dass damit über 50‘000 Leben gerettet wurden.
Felix Moser: Ob die Zahl so stimmt – möglich. Ich bin froh, dass die Welle nun abflaut. Nun gilt es, die positiven Erfahrungen der letzten Wochen weiterzuführen: Entschleunigung, weniger Verkehr, lokale Geschäfte fördern, Nachbarschaftshilfe, Ferien in der Schweiz. Das wäre der erste Schritt zum «System Change».
Andreas Kirstein: Die Globalisierung hat viele positive Seiten und mit dem Rückzug aufs Lokale und Nationale werden wir die Weltprobleme nicht lösen. Wir brauchen dringend eine neue Internationale, welche die von Dir beschriebene Solidarität vor Ort mit den sozialen und ökologischen Kämpfen anderswo verknüpft.
Felix Moser: Natürlich lösen wir lokal keine Weltprobleme, dieser Anspruch wäre falsch. Wenn wir heute ökologische Probleme angehen – lokal wie auch global – ist das auch ein Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten. Die globale Klimabewegung ist in diesem Sinne das, was die Internationale im letzten Jahrhundert war.
Andreas Kirstein: Mit der Organisation und Schlagkraft der Internationale kann die neue Bewegung nicht mithalten, aber das kann ja noch werden. Leider werden wir die Klimakatastrophe nicht mit Verhaltensänderungen in homöopathischen Dosen abwenden. Haben die Grünen noch spitzere Pfeile für Zürich im Köcher?
Felix Moser: Lass Dich überraschen – der nächste Hitzesommer kommt so sicher wie die nächsten Wahlen. Umwelt- und Klimapolitik sind und bleiben Grundpfeiler der Grünen Bewegung. Jetzt geht es darum, all die Ideen umzusetzen, damit wir Netto Null CO2 so rasch wie möglich erreichen. Welchen neuen Pfeil zieht die AL?
Andreas Kirstein: Ich arbeite seit längerem auf ein einziges städtisches Energieunternehmen hin, das ewz, Energie 360° und die ERZ Fernwärme zusammenführt. Nur so können wir die Klimaziele schnell, effizient und kostenbewusst erreichen. Das Gärtchendenken und die Konkurrenzierung der Stadtwerke muss ein Ende haben.
Felix Moser: Energieplanung ist tatsächlich ein Bereich, wo es Handlungsbedarf gibt. Ein weiterer Punkt ist die Mobilität. Der Münsterplatz und das Limmatquai sind schon autofrei – und das hat sich bewährt. Nun müssen weitere autofreie Zonen in der Innenstadt folgen. Andere Städte machen das mit Erfolg vor.
Andreas Kirstein: Der öffentliche Raum muss umverteilt werden. Velofahrende müssen erste Priorität vor dem Autoverkehr und Zufussgehende erste Priorität vor beiden erhalten. Zudem müssen wir die zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes mit kostenpflichtigen Angeboten und Werbung endlich stoppen.
Felix Moser: Da haben wir einige gemeinsame Visionen: Umbau der Mobilität, Umbau der Energieversorgung, mehr Freiräume. Das bedingt Investitionen, die zwar nicht gratis, aber gerade jetzt auch für die Wirtschaft wichtig und nötig sind. Die Zukunft der Städte ist grün – ist die AL im Kern eine grüne Partei?
Andreas Kirstein: AL ist die Partei mit dem Doppelherz: Rot und Grün für Zürich. Das gibt viel Schub für radikal-pragmatischen Ideen, mit denen wir immer wieder festgefahrene Positionen starrer politischer Blöcke in Bewegung bringen und das mit Ausstrahlung weit über Zürich hinaus.
Felix Moser: Auch Grüne Ideen strahlen weit über Zürich hinaus – das diskutieren wir ein nächstes Mal. Danke fürs Gespräch, und auf eine weiterhin konstruktive Zusammenarbeit.
Tagblatt der Stadt Zürich, 8. Juzli 2020