An den «Black-Lives-Matter»-Protesten lässt sich auf eindrückliche Art auch in Zürich eines aufzeigen: Die jüngeren Generationen haben erkannt, dass sich mit Solidaritäten über die Identitätspolitik hinweg für das grosse gesellschaftliche Ziel der Inklusion kämpfen lässt. So setzte sich letzten Samstag ein Protestumzug von Abertausenden in Bewegung, in dem sich «Black Panther Party Reloaded»-Aktivist*innen, Feminist*innen, Klimajugend, LGTB-Bewegung, Menschenrechtskämpfer*innen, Diversity-Verfechter*innen, Kapitalismuskritiker*innen, junge Menschen, die sich mit ihrer Religion identifizieren, und wohl auch viele, die hier zum ersten Mal in ihrem Leben protestierten, miteinander vereinigten. Diese geballte Kraft aus jugendlicher Lebenslust gepaart mit ernsthafter Betroffenheit und offen gelebter, selbstverständlicher Diversity strahlte etwas Feierliches, Grosses, wenn nicht gar Erhabenes aus, das mir zumindest Tränen der Rührung in die Augen trieb.
Wie kleinlich dagegen ein Teil der Berichterstattung der letzten Wochen, wie naiv-boshaft die unzähligen Erzeugnisse der Empörten in den Kommentarspalten. Wie hilflos die Fragen an die von Rassismus und Diskriminierung Betroffenen in den Interviews zum Thema. Wie alles-andere-als-zielführend die Debatten dazu im Fernsehen. Können wir uns bitte ein für alle Mal darauf einigen, dass die Frage, ob Angehörige von Minderheitsgruppen schon einmal mit Rassismus konfrontiert worden sind und was sie dabei empfunden hätten, sich nicht nur millionenfach abgenutzt hat, sondern auch einen massiven Übergriff darstellt, weil er die Befragten zwingt, sich völlig einseitig zu exponieren?
Wie soll man sich denn bitte äussern? Antworten die Befragten, sie nähmen es mit Geduld und einem gewissen Verständnis, war die Rassismuserfahrung wohl nicht so arg. Schildern sie den Klassiker, wie ihnen als Kind von Wildfremden immer wieder ins Haar gefasst wurde, als nachhaltig traumatisch, gelten sie als «Sensibeli» und humorlos. Beklagen sie sich über wiederholte Personenkontrollen, haben sie sich wohl verdächtig benommen oder verstehen «unser» System nicht. Kriegen sie einen Job oder eine Wohnung nicht, haben sicher andere Faktoren als die Hautfarbe oder der Name den Ausschlag gegeben. Diese Liste von Beispielen könnte unendlich weitergeführt werden und zeigt, wie reflexartig in unserem Land auf Diskriminierungsvorwürfe reagiert wird.
Eine Debatte, die einmal mehr von der Frage ausgeht, ob unsere Gesellschaft überhaupt rassistisch ist, und die die Beweisbringschuld nur den Betroffenen zuweist, bringt uns als Gemeinschaft nicht weiter. Wir müssen endlich selber «die Hosen runterlassen», uns in einem allerersten Schritt (der zwar spät, aber besser jetzt als nie erfolgt) zum hausgemachten Rassismus bekennen, denn nur so durchbrechen wir den Loop der Renitenz und pseudo-kindlichen Selbstverneinung. Nur auf diesem Weg kann unsere Gesellschaft reifen und dieses Kinderzimmer verlassen. Nur so lässt sich eine bereichernde Debatte auf gleicher Augenhöhe darüber führen, wie wir miteinander umgehen sollen, wie wir Rassismus auch wieder «entlernen» und wie wir Ungleichheit politisch, ökonomisch und sozial eindämmen können.
Die Jugend rund um die «Black-Lives-Matter»-Bewegung ist da bereits einen grossen Schritt weiter: Sie ist im Moment noch «the only adult in the room» – auch da rein zu kommen, sollte unser aller Ziel sein.
Andrea Leitner