Das in Art. 22 BV verankerte Grundrecht der Versammlungsfreiheit gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines freiheitlichen demokratischen Staates. Die Ausübung der Versammlungsfreiheit – und der Meinungsfreiheit – ermöglicht allen, und auch Menschen, die keine Lobby haben und die nicht die Möglichkeit haben, ihre Anliegen über die Medien, Parteien oder Verbände zu äussern, aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilzunehmen. Das Recht, sich im öffentlichen Raum zu versammeln, erlaubt allen, und auch politischen Minderheiten, ihre Meinung sicht- und hörbar zu machen.
Auch wenn klar ist, dass in Anbetracht der Covid-19-Pandemie physischer Kontakt zwischen Menschen reduziert werden muss und Versammlungen ein Infektionsrisiko darstellen können, darf nicht übersehen werden, dass auch – und gerade – in der derzeitigen Situation Anlass besteht, Protest zu äussern und diesen auch sichtbar zu machen.
Am 1. Mai zeigte sich eindrücklich, wie die COVID-19-Verordnung die Grundrechte einschränken kann. Am 30. April 2020 hiess es noch aus Bundesbern, die Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit sei auch am 1. Mai gewährleistet: “Denkbar sind alle Formen von politischen Äusserungen, bei denen es zu keinen Menschenansammlungen kommt (beispielsweise Aufstellen von Plakaten im öffentlichen Raum).” Die Behörden hätten einen Handlungsspielraum, “insbesondere, wenn sich nur einzelne Personen an einer Aktion beteiligen”.
Stadträtin Karin Rykart und das Sicherheitsdepartement schien dieser Handlungsspielraum nicht zu interessieren. Transparente wurden von der Polizei entfernt, Aktivist*innen wurden verhaftet, wenn sie Transparente aufhängten, Fahnen wurden konfisziert, Menschen wurden am Bellevue eingekesselt, 113 Personen wurden aus den Kreisen 1,4 und 5 weggewiesen. All dies geschah, obwohl die Vorgaben des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) eingehalten wurden. In “Schweiz Aktuell” vom 4. Mai zeigt sich eindrücklich, dass die Aussagen von Polizeisprecher Marco Cortesi dem Bildmaterial der Sendung widersprechen: Am Bellevue waren keine 100 Demonstranten*innen.
Es scheint, dass sich die Zürcher*innen mehrheitlich an die Vorgaben hielten, die Stadtpolizist*innen hingegen nicht. In der Einsatzdoktrin der Polizei fehlten Schutzmassnahmen in diesen aussergewöhnlichen Zeiten offenbar komplett. Weder hielten die Polizist*innen untereinander Abstand noch trugen sie einen Gesichtsschutz und die Kontrollen fanden ohne Handschuhe statt. Das gefährdete nicht nur die Gesundheit der Polizeikräfte, sondern auch all derer, die ihre Protestaktionen sorgfältig mit den Richtlinien des BAG in Einklang gebracht hatten. Ein Schutzkonzept, wie es etwa im ERZ oder bei den VBZ umgesetzt wird, muss dringend auch im Sicherheitsdepartement eingeführt werden.
Die AL-Fraktion hält es ausserdem für fahrlässig, dass das Sicherheitsdepartement nicht schon vor dem 1. Mai juristische Abklärungen traf, um die Handlungsspielräume zu definieren, und sich stattdessen für die unsensible Holzhammermethode der Nulltoleranzpolitik entschied. In einem Land, das immer wieder die Eigenverantwortung seiner Bewohner*innen hochhält, sollte es selbstverständlich sein, dass eine Stadtregierung ihren Städter*innen zutraut, dass sie politische Protestaktionen unter Einhaltung der Gesundheitsregeln durchführen.
Nächsten Montag werden weitere Teile der Wirtschaft wieder hochgefahren. Dann bewegen sich alle wieder mehr, gehen in die Geschäfte, in Restaurants, zur Dentalhygiene, an die Schule. Und es wird den Menschen zugetraut, dass sie dies mit Bedacht tun. Nur das Grundrecht auf Protest soll weiterhin zuhause bleiben? Und jene, die es ausüben wollen, sollen strafrechtlich und mit drakonischer Härte belangt werden dürfen? Der gesunde Menschenverstand verlangt hier einen schnellen und konsequenten Richtungswechsel. Und es reicht bei weitem nicht, nur die Vorfälle rund um den 1.Mai aufzuarbeiten. Die Exekutive muss so schnell als möglich einsehen, dass politischer Protest in Zeiten von Corona genauso in den öffentlichen Raum gehört wie die Menschenschlangen vor dem Gartencenter.
6. Mai 2020
Dringliche schriftliche Anfragen zum Polizeieinsatz am 1. Mai:
Christina Schiller (AL) und Sarah Breitenstein (SP): Polizeieinsatz am Bellevue
Luca Maggi (Grüne) und Christina Schiller (AL): Einsatzdoktrin der Polizei
Sarah Breitenstein (SP) und Luca Maggi (Grüne): Demoverbot am 1. Mai