Wir erleben zurzeit keine Sternstunde der Menschheit. Die Corona-Krise funktioniert wie ein Brennglas, denn sie bündelt alle menschlichen Möglichkeiten auf einen Punkt: Grösste Niedertracht und grösster Held*innenmut liegen nahe beieinander und lassen sich an vielen Taten und Worten der letzten Wochen auch in dieser Stadt fest-machen.
Der grosse Dank der AL-Fraktion gehört heute allen, die den Laden auf den verschiedenen Ebenen der medizinischen Versorgung und der ökonomischen Grundversorgung am Laufen halten. Der Dank geht aber auch an die ganze Bevölkerung, die sich an die Vorgaben der Behörden halten und den rechten Rattenfänger*innen mit ihren libertär-pubertierenden Forderungen nach einem schnellen Ende des Lockdowns und ihrer Gerüchtetreiberei nicht auf den Leim gekrochen sind.
Das Virus macht feine, aber fiese Unterschiede beim Alter und beim Geschlecht, aber es macht vor allem einen grossen Unterschied zwischen Hütten und Palästen. Die Hütten werden in Zürich zwar noch nicht reihenweise befallen, die Paläste aber bleiben auch hier die Ausnahmen. Auf der Strasse und in Kleinstwohnungen lebend, ist das Distanzhalten mühsamer und das Vermeiden von Vorerkrankungen eben schwieriger als in den Villen am Züriberg und den grossen Eigentumswohnungen in Zürich West. Mit einer Corona-Vermögenssteuer könnten wir wenigstens auf Kantons- und Bundesebene die Solidarität der Besitzenden hier etwas stärken.
Der Auslöser der Krise ist zweifelsohne das neue Corona-Virus. Weltweite virale Be-drohungen sind aber alles andere als schwarze Schwäne. Sie sind vielmehr bekannte, häufige und immer wieder auftretende Ereignisse: Die spanische Grippe 1918, die zahlreichen Grippeepidemien des 20. Jahrhunderts, Ebola, Mers und Sars hätten uns mehr als genug Unterrichtsstoff gegeben, um unser ökonomisches System für diese Bedrohungen zu rüsten. Dies haben wir nicht getan. Das Virus hat die aktuelle Krise ausgelöst, aber es ist in keiner Weise deren Ursache. Die Ursache ist ein gesamtökonomisches System, das auf extreme Profitraten in Kombination mit Schuldenpolitik ausgerichtet ist. Verschärft wird die Lage durch die Transformation eines ursprünglich auf Versorgung ausgerichteten Gesundheitssystems in einen ökonomisierten Gesundheitsmarkt. Erst dadurch konnte sich an vielen Orten eine virale Erkrankung zu einer Unterversorgungspandemie entwickeln. Uns geht es dabei im internationalen Vergleich vorerst noch gut.
Das Absurde an der heutigen Situation ist, dass wir mit den jetzt auf allen Ebenen anrollenden staatlichen Hilfen in grossen Teilen – nicht in allen – genau jene Akteur*innen des Systems bedienen, die für dessen Versagen am meisten verantwortlich sind. Hätten die mittleren und grossen börsenkotierten Unternehmen weniger in die Pflege ihrer Aktienkurse und Dividenden und mehr in die Stabilität und Resilienz ihrer Unternehmungen investiert, stünden wir heute nicht da, wo wir stehen. Und diese grosszügigen Kreditlinien gewähren wir in den meisten Fällen auch noch, ohne auch nur eine Forderung daran zu knüpfen. Ein System, das auf einen Lockdown von je nach Schätzung zwischen 5 und 20% des Bruttoinlandproduktes während dreier Monate mit dem totalen Crash reagieren würde, ist unserer Unterstützung nicht würdig. Falls dem nicht so ist, wäre das Krisengeschrei offensichtlich ein Fake, um dem Staat noch mehr Geld für die Unternehmen abzupressen. Ausserdem haben die staatlichen Hilfen in der Finanzkrise von 2008 gezeigt, dass diese Hilfe nicht in einer Weise genutzt wurde, die das System stabiler oder gar sozialer gemacht hätte, geschweige denn Jobs geschaffen hätte. Ganz im Gegenteil.
Die Stadt Zürich ist das letzte Glied in der institutionellen Nahrungskette, die das ökonomische System namens Kapitalismus zur Steuerung seiner Interessen aufgebaut hat. Was kann die Stadt Zürich also tun? Als erstes haben wir dafür zu sorgen, dass die in unserer Verantwortung stehenden Institutionen der Versorgungskette, welche am meisten betroffen sind, also Spitäler, Alters- und Pflegezentren, optimal organisiert sind und über alle Schutzmassnahmen und alle Schutzmaterialien verfügen. Gerade hier zeigt sich, wieviel getan werden kann, wenn wir als Gemeinde selbst die ganze Versorgungskette kontrollieren und uns nicht nur auf die Institutionen des Kantons verlassen müssen.
Dann müssen wir die Not derjenigen lindern, die am härtesten betroffen sind. Und das sind nicht diejenigen, die am lautesten schreien. Es ist wie in der kriegsmedizinischen Triage: In den Schreihälsen steckt meist noch viel Leben. Jene aber, die immer leiser werden, sind am akutesten betroffen. Heisst: Sexarbeiter*innen, Sans-Papiers, Marginalisierte, Obdachlose müssen im Fokus stehen. Ebenso die vielen brotlosen Kulturschaffenden und Kulturvermittelnden, die neuen Arbeitslosen, die Jugendlichen, die Ende August keine Lehr- oder Anschlussstellen finden, kleine unabhängige Shop- und Restaurantbetreibende und dann die untere Mittelklasse. Die «Grossen» – der grössere Rest – ist entweder genau für das System relevant, das uns überhaupt erst in diese Krise geführt hat, oder sie sind, der Subsidiarität folgend, primär durch Bund und Kanton zu versorgen.
Zudem muss die Stadt Zürich, falls sich die Krise vertieft, eine die Nachfrage treibende Unterstützung an die einzelnen Leute auszahlen, damit der Konsum nicht zusammenbricht. Grössere Unternehmungen wie zum Beispiel Restaurantketten sollten wir nur durch Erleichterungen bei den Fixkosten, insbesondere durch Mieterlasse, unterstützen, dann, wenn wir dazu rechtlich überhaupt in der Lage sind. Städtische Investitionen in ein offensichtlich nicht lebensfähiges ökonomisches Gesamtsystem können und sollten wir uns nicht leisten.
Lassen Sie uns den Kreis hier mit Georg Büchners Appell aus dem Westfälischen Landboten von 1834 schliessen: “Friede den Hütten, Krieg den Palästen!”
29. April 2020