Zürich wächst. Und wächst. Die Grenzen aber fallen nicht. Die Grenzen zwischen denjenigen, die dazugehören und denjenigen, die nicht oder weniger dazu gehören, sind nicht geringer geworden. Im Gegenteil. Viele mussten und müssen die Stadt Zürich verlassen, sie werden verdrängt, nach Geroldswil, Glattbrugg oder weiter hinaus. In die Gürtel ausserhalb der Stadtgrenzen. Einige kehrten auch gleich zurück nach Portugal oder Mazedonien.
Viele konnten aber gar nicht erst zu uns kommen. Man liess sie nicht in die Schweiz, nicht nach Europa, nicht übers Mittelmeer. Sie blieben hängen, irgendwo zwischen Agades und Tripolis, in der Wüste Sahara, sie leiden in einem Lager in Libyen, in der Türkei oder sind ertrunken im Mittelmeer oder im Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland, wurden zurückgewiesen und deportiert auf ihrem Weg in die gelobten Länder Deutschland oder Schweden.
In meiner Stadt der Zukunft können sich die Menschen sicher fühlen, finden auch diejenigen Wohnungen, die wenig verdienen und brauchen Flüchtlinge keine Beweise fürs Verfolgtsein, Bedrohtsein, für Not, Verzweiflung und Elend.
Meine Vision ist ein Zürich als weltoffene Stadt nicht nur für Moden und Finanzen, sondern auch für Menschen egal welcher Herkunft und Status‘. Und auch egal, ob sie im Zentrum leben oder im Limmattal. In meiner Vision endet Zürich West nicht vor Schlieren, sondern irgendwo zwischen Bergdietikon und Turgi. Meine Vision ist die einer Welt ohne Grenzen, in der Flüchtlinge nicht vergewaltigt, gefoltert, gefangen genommen werden und nicht verdursten oder ertrinken, verhungern oder versklavt werden.
Das lässt sich nicht von heute auf morgen verwirklichen. Aber wir können heute damit beginnen und aufhören, unsere Zeit damit zu verbringen, immer neue Abschottungsmethoden zu entwickeln und uns in unsere gedanklichen und realen Wohlfühloasen zurück zu ziehen. Wir müssen die Komfortzone verlassen, Mitgefühl zeigen und Lösungen suchen, die vielleicht die Grenzen der Vorstellung darüber, was möglich ist, sprengen. In meiner Vision setzen wir unsere Energie dafür ein, uns mit solidarischen und weltverträglichen Veränderungen auseinander zu setzen.
Richard Wolff
Originalartikel erschienen auf tsri.ch
* Teil I: Zürich ohne Grenzen. Theo Ginsburg, Hansruedi Hitz, Christian Schmid, Richard Wolff (Hrsg.), pendo, Zürich, 1986.