SBB als Genossenschafts-Pionierin
Beim Bau von Personalwohnungen waren die SBB einst führend. Vor Dienstbeginn und nach Dienstschluss ruhte der öffentliche Verkehr. Darum war die Bahn interessiert, ihren Angestellten zahlbaren Wohnraum in der Nähe der Depots und Bahnhöfe anzubieten. Sie unterstützte deshalb aktiv Eisenbahner-Baugenossenschaften (EBG), die ihrerseits eine Pionierrolle in der Genossenschaftsbewegung spielten. 1909 wurden in St.?Gallen und Rorschach die ersten EBG gegründet, es folgten Biel, Luzern und Zürich, Basel, Brig und Erstfeld, Burgdorf, Rapperswil und Romanshorn. Die Bahn half beim Landkauf, stellte Land im Baurecht zur Verfügung und gewährte günstige Zweithypotheken. Im Gegenzug durften die EBG nur SBB-Angestellte aufnehmen. Heute unterhalten die SBB 38 Baurechtsverträge mit Baugenossenschaften für 1700 Wohnungen. Der aktuelle Gesamtarbeitsvertrag hält immer noch fest: «Die SBB befürworten den sozialen Wohnungsbau.»
Damals: Grosszügige Wohnbauförderung in Zürich
In Zürich verkaufte die SBB der 1910 gegründeten Eisenbahner-Baugenossenschaft (heute Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals, BEP) zwischen 1912 und 1925 vier Parzellen auf dem ehemaligen Bahndammareal entlang der Röntgenstrasse, auf denen heute 301 preisgünstige BEP-Wohnungen stehen. Leider lehnte die BEP 1993 das Angebot der SBB für den Kauf des Röntgenareals für 1200 CHF/m2 als zu teuer ab. Heute stehen dort 317 preisgünstige Wohnungen («Sugus-Häuser») des privaten Investors Leopold Bachmann. Auf Stadtgebiet konnte die EBG Dreispitz dank günstigen SBB-Baurechten in den 1970er-Jahren an der Neugasse und in Altstetten 119 Wohnungen erstellen. Zwei noch von der «alten» SBB gewährte Baurechte ermöglichten 2000 bis 2003 den Bau von 131 zahlbaren Genossenschaftswohnungen im Zentrum Zürich Nord in Oerlikon (GBMZ und BG Zentralstrasse).
Radikaler Paradigmawechsel ab 2000
Doch das war einmal. Mit der Jahrtausendwende brachten drei Ereignisse einen radikalen Paradigmenwechsel: Die Umwandlung der SBB in eine AG 1999, die Übernahme der Sanierungsverpflichtung für die Pensionskasse 2007 und die Aufwertung von SBB Immobilien zu einer eigenständigen Division 2008. SBB Immobilien fährt als Cash-cow des Bahnkonzerns einen aggressiven Renditekurs.
SBB Immobilien reizt Rendite maximal aus
Bei der Verstaatlichung 1902 haben die SBB das von ihren privaten Vorgängerbahnen gekaufte oder enteignete Land für ein Butterbrot übernommen. Noch heute figurieren die Grundstücke der SBB Immobilien (ohne Gebäude) mit den historischen Anlagewerten für schlappe 75 Franken pro Quadratmeter in der Bilanz. Einen 200-Mio-Reibach realisierte die SBB 2009 beim Verkauf einer Europaallee-Parzelle an die UBS für 26’931 Franken pro Quadratmeter. Und in ihren Wohnbauten an der Europaallee, in Letzibach C und WestLink in Altstetten und neuestens in der Gleistribüne an der Zollstrasse kassiert sie für 3.5- und 4.5-Zimmer-Wohnungen 2’535 bis 5’885 Franken Bruttomiete pro Monat; für eine 1.5-Zimmer-Wohnung muss man zwischen 1’785 und 2’645 Franken aufwerfen. Unbezahlbar für die meisten und auch für das Gros der SBB-Angestellten, deren Pensionskasse mit den Erträgen saniert werden soll.
Mondpreise nicht nur in Zürich
Nicht nur an der Europaallee bewegen sich die Mieten von SBB-Wohnungen im obersten Segment. In der Überbauung «Am Bahnhof»› in der Agglomerationsgemeinde Schlieren muss man für 2½ Zimmer 2065 bis 2370 Franken aufwerfen. Zum Vergleich: hier kosten die 10 Prozent teuersten Wohnungen («90-Prozent-Quantil») mindestens 1490 Franken. Für 3½ Zimmer zahlt man 2550 bis 2770 Franken und für 4½ Zimmer 2880 bis 2990 Franken; das 90-Prozent-Quantil liegt bei 1930 respektive 2350 Franken. Im Meret-Oppenheim-Hochhaus beim Bahnhof SBB in Basel betragen die Angebotsmieten durchschnittlich 395 Franken pro Quadratmeter mit Spitzen bis zu 481 Franken – dies bei einem 90-Prozent-Quantil von 320 Franken pro Quadratmeter (Quelle: Immomonitoring Wüest Partner 2018–1).
10 000 Wohnungen bis 2035
Und es geht weiter: In den nächsten 15 bis 20 Jahren will die SBB AG 10’000 neue Wohnungen bauen – davon 1’400 im Kanton Zürich – und ihre Mieteinnahmen auf 1.2 Milliarden Franken knapp verdreifachen. Auf mehr als 100 SBB-Arealen sind in den letzten Jahren Überbauungen realisiert worden oder aktuell in Planung. Im Kanton Zürich verfügt die SBB ausserhalb der Stadt in knapp einem Dutzend Gemeinden über zentrale Baulandreserven von rund 17 Hektaren, davon allein gut 9 Hektaren in Winterthur. Das entspricht insgesamt der Fläche von rund 2 Europaalleen…
Bundesbern schaut aktiv weg
Alle vier Jahre formuliert der Bundesrat «strategische Ziele» für die SBB AG. Zur Division Immobilien hält die am 14. Dezember 2018 – noch vor dem Amtsantritt von Simonetta Sommaruga – unter Verkehrsministerin Leuthard verabschiedete Vorgabe 2019 – 2022 lakonisch fest: «Sie partizipiert durch die gezielte Entwicklung ihres Portfolios und der Bahnareale an deren Wertsteigerung.» Ein copy-paste-Ziel wie in den Vorjahren. Immerhin: Beim Ausbau der Bahnhöfe zu Mobilitätsdrehscheiben «stimmt sie sich mit kantonalen und kommunalen Behörden ab». Bei den zahlreichen Entwicklungs- und Spekulationsprojekten des «Portfolios» im Bahnhofumfeld verzichtet die Landesregierung jedoch höflich auf weitere Vorgaben. Im Klartext: die Immobilienpolitik der SBB geht dem Bundesrat am Arsch vorbei. Hauptsache, die Kasse stimmt
«Zollhaus» contra «Gleistribüne»
Der Widerstand gegen diese Abzockerpolitik wächst, vor allem in der Stadt Zürich. Hier sind bis jetzt bloss bei zwei von zehn Projekten auf SBB-Arealen – Letzibach D und Zollhaus – gemeinnützige und damit preisgünstige Wohnungen vorgesehen. Und auch das nur dank massivem politischem Druck. 1’191 Marktwohnungen mit Mondpreisen stehen gerade mal 313 zahlbare gegenüber.
Wie krass der Unterschied ausfällt, dokumentieren die beiden auf SBB-Land an der Zollstrasse erstellten Überbauungen «Gleistribüne» (SBB) und «Zollhaus» (Genossenschaft Kalkbreite): einmal mit, einmal ohne Bodenrente, einmal für 470 CHF pro Quadratmeter Mietfläche (SBB), einmal für 284 CHF (Genossenschaft).
Nagelprobe Neugasse
Aufgrund des auch in den Chefetagen registrierten Widerstands hat die SBB AG bei der geplanten Neuüberbauung auf dem Areal Neugasse erstmals einen Drittel gemeinnützige Wohnungen angeboten. Aus Sicht der AL nicht genug, denn die SBB hat wohnpolitisch sehr viel gutzumachen. Mit einer Initiative, die im Gemeinderat hängig ist, fordert der 2017 gegründete Verein Noigass den Kauf des Areals und 100% gemeinnütziges Wohnen und Arbeiten auf dem Areal. Das Parlament hat den Stadtrat beauftragt, eine Erhöhung auf mindestens 50% durchzusetzen.
Mieterverbands-Initiative verlangt Vorkaufsrecht für SBB-Areale
Der rot-grüne Stadtrat ist bisher viel zu wenig fordernd und selbstbewusst aufgetreten. Es brauchte den Druck der Bevölkerung, damit sich etwas bewegt. In Bundesbern findet leider praktisch keine Diskussion statt. Mit der Initiative des Mieterinnen- und Mieterverbandes für mehr bezahlbare Wohnungen, über die wir am 9. Februar abstimmen, würde ein wichtiges Instrument geschaffen: Kantone und Gemeinden sollen bei Grundstücken im Eigentum des Bundes oder bundesnaher Betriebe – vor allem SBB, Post und armasuisse – ein Vorkaufsrecht erhalten.
Niggi Scherr: Bezahlbare Wohnungen Nr. 1: Liebe Regine Sauter (PDF)
Niggi Scherr: Bezahlbare Wohnungen Nr. 2: Wer stoppt SBB Immobilien, Post und armasuisse? (PDF)
Strategische Ziele des Bundesrats für die SBB AG 2019 – 2022
Projekte auf SBB-Arealen 2018 (aus Hochparterre-Sonderdruck «Die unbekannte Gigantin»)