Liebe Regine Sauter: Ich weiss, es ist nicht einfach und schon gar nicht populär, gegen den Bau von mehr bezahlbaren Wohnungen anzutreten. Gegen Wohnungen, die nur nach den effektiven Kosten, ohne spekulativen Profit, vermietet werden.
Strippenzieher gehen in Deckung
Wenn es brenzlig wird, ziehen sich die – meist männlichen – Strippenzieher gern in den Hintergrund zurück. Etwa mein alter Kollege Daniel Fässler, 1991 – 1994 Leiter der Rechtsabteilung des Zürcher Mieterverbands und heute CVP-Ständerat. Als Präsident des mächtigen, aber kaum bekannten VIS Verband Immobilien Schweiz agiert er hinter den Kulissen als Cheflobbyist der institutionellen Renditebolzer, die heute rund 40 Prozent aller Mietwohnungen kontrollieren.
Gegenüber der WoZ mimt er auf Anfrage den Ahnungslosen. Von der Studie des Raiffeisen Investment Centers, wonach die Mieten 40 Prozent höher sind, als das Mietrecht eigentlich erlaubt, hat er noch nie gehört: «Ich kann nicht beurteilen, ob die Renditen zu hoch sind.» Dafür bräuchte er Einblick in die Rechnungsbücher der ImmobilienbesitzerInnen.» (WoZ 16. Januar 2020) Ein bemerkenswerter Satz. Immerhin ist Daniel Fässler Mitglied des Stiftungsrats und der Anlagekommission der Swiss Prime Anlagestiftung, einem Ableger der Swiss Prime Site (SPS), der grössten börsenkotierten Immobilien-AG der Schweiz, mit einem Anlagevolumen von 1.6 Milliarden Franken und Mieteinnahmen von 49 Millionen. In dieser Eigenschaft dürfte er bei Käufen und Investitionen auch ein Auge auf die Rendite werfen…
Der Markt kennt keinen Pardon
Da schätze ich Ihre Direktheit. Im «Tagesschau»-Interview reden Sie Klartext:
«Wenn Sie nur beschränkte Mittel zur Verfügung haben, dann müssen Sie halt dorthin ziehen, wo Sie sich eine Wohnung leisten können. Es ist klar, dass nicht jedermann mitten in der Stadt Zürich wohnen kann.»
Ein Satz voll klirrender Kälte, kühl bis ans Herz hinan. Tina – there is no alternative. Man spürt richtig, wie die eiserne und gar nicht unsichtbare Hand des Marktes einen am Schopf packt und von Zürich ins Oberland deportiert, wo es noch 2 Prozent Leerwohnungen hat und die Mietpreise tiefer sind. Oder in den Oberaargau, irgendwo zwischen Langenthal und Herzogenbuchsee, wo die Leerstände aktuell sogar bei über 4 Prozent liegen und die Mieten im Keller sind.
Ab in die Agglo?
Ja, der Markt hat gesprochen: Du wurdest gewogen und für zu leicht befunden. Du bist in der Stadt Zürich aufgewachsen, hast immer hier gelebt und Steuern bezahlt und verlierst deine Wohnung, weil sie abgerissen wird? Spielt keine Rolle, es gibt überall Wohnungen. Du putzt frühmorgens die Büros von Google in der Europaallee und hast für Deine Wohnung in der Stadt die Kündigung erhalten? Ab in den Aargau. Pendeln? Kein Problem. Du bist jetzt 75, noch zwäg und musst nach 30 Jahren wegen einer Luxussanierung deine Wohnung verlassen? Ab ins Altersheim. Oder in die Agglo, du wirst dort schon wieder neue Gspänli finden.
Markt oder Marktversagen?
Nehmen wir an, Sie haben eine betagte Mutter, die von der AHV und einer kleinen Pension lebt und die Wohnung verliert, in der sie während Jahrzehnten gelebt hat. Würden Sie ihr auch empfehlen, sich andernorts umzusehen? Oder dafür kämpfen, dass sie in ihrem angestammten Umfeld bleiben kann, wo ihre Freund*innen und Bekannten leben? Ist es für Sie Ausdruck eines funktionierenden Marktes, wenn 75’000 Wohnungen auf Halde produziert werden, an Orten, wo keine Nachfrage besteht? Liegt hier nicht eher ein Marktversagen vor? Und überhaupt: Diktiert der Markt, wo man wohnen kann und darf? Sollte sich nicht umgekehrt der Markt nach der Nachfrage und den Bedürfnissen der Menschen richten?
Ghettos für Reiche und Arme?
Wohin Ihre Marktlogik – genauer: Ihr Marktdiktat – führt, bringt Martin Geiger, neoliberaler Wanderprediger der Marktmiete und einer der Erfinder der sogenannten „hedonischen“ Bewertungsmethode, in der BWO-Studie «Der Mietwohnungsmarkt» auf den Punkt:
«Auf den schlechten Standorten wohnen die Armen, auf den guten wohnen die Reichen und auf den besten residieren die Firmen.»
Denkt man Ihr Konzept zuende, landen wir bei Ghettos für Reiche und Ghettos für Arme. Am Schluss stehen abgeschottete Luxus-Residenzen – gated communites. Einen Vorgeschmack erhalte ich jeweils, wenn ich mit dem Zug ins Bündnerland unterwegs bin und mir bei Pfäffikon/Freienbach die Millionärs-Plantagen und Shareholder-Cremeschnitten ins Auge stechen, die den Hang verhunzen.
Schweiz AG oder Eid-Genossenschaft?
Die Frage, die sich am 9. Februar stellt, ist einfach: Mehr Schweiz AG? Oder mehr Eid-Genossenschaft? Ich halte es mit der Eid-Genossenschaft und unserer Bundesverfassung. Dort steht in Art. 41 der schöne Satz:
«1 Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass:
e. Wohnungssuchende für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können»
Postskriptum
Glaubwürdigkeit ist in der Politik ein hohes Gut. Gegenüber nau.ch haben Sie an der Medienkonferenz des gegnerischen Komitees wörtlich erklärt:
«Der Fonds de Roulement ist eine bessere Lösung, denn mit dem wird wirklich dort, wo Bedarf besteht, der Wohnungsbau unterstützt und nicht einfach flächendeckend nach dem Giesskannenprinzip.»
Und Ihre Kollegin, die Thurgauer CVP-Ständerätin Brigitte Häberli-Koller, Vizepräsidentin des Schweizer Hauseigentümerverbands, hat das bekräftigt:
«Wir haben andere Mittel, um den gemeinnützigen Wohnungsbau viel schneller und viel effizienter zu fördern, mit dem Fonds de Roulement.»
Dumm nur, dass Sie am 14. Dezember 2018 – zusammen mit der gesamten SVP-Fraktion und mit Ihrem mittlerweile abgewählten Kollegen Hans-Ulrich Bigler – gegen die Aufstockung des Fonds de Roulement gestimmt haben und sich Frau Häberli-Koller am 11. März 2019 im Ständerat der Stimme enthalten hat…
Scherr: Bezahlbare Wohnungen Nr. 1: Liebe Regine Sauter (PDF)
Scherr: Bezahlbare Wohnungen Nr. 2: Wer stoppt SBB Immobilien, Post und armasuisse? (PDF)