Die Gründung der AL erfolgte an der Diskussionswoche von «Züri 1990» vom 23. bis 30. September 1989 in Oberrickenbach: Wie war damals die Stimmung, was trieb Sie und Ihre MitstreiterInnen um?
Niklaus Scherr: Es war die Zeit des zuende gehenden Kalten Krieges. Bereits seit 1983 hatten wir uns bei den Progressiven Organisationen der Schweiz POCH Gedanken zum absehbaren Ende des «realen Sozialismus» gemacht. Mit dem Waldsterben 1985 und dem Atomunfall von Tschernobyl 1986 entstanden neue Umweltbewegungen. In Deutschland kam es zur Gründung des «Bündnis 90», das 1993 mit den Grünen zur Partei «Bündnis 90/Die Grünen» fusionierte. Auch die Rolle der Frauen in der Politik stand zur Debatte, in der POCH galt ab 1983 ein Frauenanteil von 60 Prozent in allen Gremien. Alle K-Gruppen, also jene, die sich in irgendeiner Form von kommunistischer Tradition sahen, waren im Aufbruch: Die POCH, die Partei der Arbeit (PdA) und die trotzkistische Sozialistische Arbeiterpartei SAP, die frühere «Revolutionäre Marxistische Liga».
Zuvor war es demnach normal gewesen, dass die Linken in ihren K-Gruppen politisierten, statt am selben Strick zu ziehen?
Während des Kalten Kriegs herrschte eine Lager-Mentalität, und wer zum einen Lager gehörte, konnte nicht plötzlich im anderen auftauchen. In den K-Gruppen trug man seine politischen Differenzen aus und fuhr sich gegenseitig hart an den Karren. Im Übrigen profitierte auch die Regierungspartei SP vom Kalten Krieg: Weil der Kommunismus als externe Bedrohung auf Systemebene stets präsent war, waren Arbeitgeber und Bürgerliche zu Zugeständnissen an die SP bereit, , die später kaum mehr zu bekommen waren. Das alles brach 1989/90 auf.
Nach 1989 war dieses Konkurrenzdenken plötzlich weg, man vertrug sich wieder und ging zur AL?
Aus den K-Gruppen kamen zu uns primär jene Ex-Mitglieder, die sich stets nah an zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie der 80er-«Bewegig» in Zürich oder auch im Umkreis der alternativen Kultur- und Filmszene bewegt hatten. Uns verband vor allem ein Lebensgefühl, wir fühlten uns im selben ‘Kuchen’ heimisch. Wer hingegen in den politischen Institutionen Karriere machen wollte, ging eher zu den Grünen oder zur SP. Selbstverständlich gab es alte Animositäten unter denen, die frühere Grabenkämpfe miterlebt hatten, vor allem zwischen Trotzkist*innen und PdAler*innen. Doch der realpolitische Impuls und der Drive der Bewegungen hat die AL, die sich damals noch nicht als Partei definierte, zusammengehalten.
Und dann war die Zeit reif für eine neue Partei?
Es brach generell eine neue Zeit an: Im November 1989 fand in der Schweiz die Abstimmung über die Armee-Abschaffungsinitiative der Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee GSoA statt. In Deutschland fiel die Berliner Mauer. 1990 löste sich die POCH auf. Um den Nachlass kümmerten sich Daniel Vischer, Gabi Petri und ich. Die Akten gingen ans Sozialarchiv, das Geld zu gleichen Teilen an AL, Grüne und SP. Etwas blieb gleich: Für uns alle, Ex-Mitglieder der POCH, SAP und maoistischer Gruppen und Mitglieder der PdA, war und blieb die SP der grosse, manchmal böse Bruder (lacht). Es wehte ein frischer Wind damals, wir hatten grosse Erwartungen. Wie sich bald herausstellen sollte, machten wir uns aber auch viele Illusionen.
Die AL startete schlecht in die politische Arbeit?
Zu Beginn prägte die Zusammenarbeit mit der FraP!, der Gruppe «Frauen machen Politik», die AL. Wir waren stets in Allianz – und Konkurrenz – mit- und zueinander unterwegs. Es war viel Euphorie im Spiel, alle dachten, nach dem Ende des Kalten Krieges wäre es endlich möglich, unseren Ideen zum Durchbruch zu verhelfen. Doch der Katzenjammer liess nicht lange auf sich warten: Der Stadt Zürich ging es finanziell schlecht, und nstatt besserer Zeiten erlebten wir den Aufstieg der SVP. Dazu kam eine innerlinke Entfremdung: Die SP baute eine Brücke zur FDP und betrieb unterm Label «Koalition der Vernunft» mit ihr zusammen Realpolitik.
Was bedeutete das für die AL?
Vor allem ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre war die SP «pragmatisch» unterwegs und kaum Gesprächspartner für uns. 1998 wurde die SP-Hochbauvorsteherin Ursula Koch abgesägt, danach begann die Ära des späteren SP-Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber, der in der Stadtentwicklung voll auf Liberalisierung setzte. Die Stadt bewegte sich in Richtung «Global City», «Wachstum» und «Aufwertung». Damals gingen wir eine engere Allianz mit den Grünen ein.
Wo steht die AL heute?
Für die Gründungsmitglieder war es ein «Lehrblätz», den Spagat zwischen utopischer Grundhaltung und pragmatischer Tagespolitik auszuhalten. Wir durften nicht in die Falle tappen, lauter tolle Sonntagspredigten zu halten – und schliesslich in glorreicher Isolation unterzugehen. Wir wollten die Chance packen, im Dreieck der institutionalisierten Politik von SP, Grünen und AL taffe Realpolitik zu machen und zugleich unsere Rolle als linkes Gewissen und Störenfried zu spielen. Heute nehmen wir diese Funktion aus einer gestärkten Position heraus wahr. Wir sind längst nicht immer einer Meinung mit SP und Grünen, und das ist auch gut so: Allzuviel Solidarität innerhalb des eigenen Lagers kann träge machen.
Wie hat sich die AL inhaltlich entwickelt?
Im Vordergrund stand am Anfang das Theman Stadtentwicklung und Wohnen. Wir waren aber auch die treibende Kraft gegen den Privatisierungswahn. In der Deutschschweiz hatten wir dabei den Lead, während SP und Grüne damals eher in die Richtung schielten, in die Tony Blair mit seinem New Labour in England und die Schröder/Fischer-Regierung in Deutschland gingen. In Zürich war die AL federführend, als 2000 in Zürich die Privatisierung des EWZ und im Bund die Strommarktliberalisierung zur Debatte standen. Dass wir diese beiden Abstimmungen gewannen, und das gegen eine anfänglich zögernde und teilweise befürwortende SP, ist bis heute einer unserer grössten und nachhaltigsten Erfolge.
Welche Erfolge konnten Sie in der Wohnpolitik verbuchen?
Als 2007 das Jubiläum «100 Jahre gemeinnütziger Wohnungsbau in Zürich» gefeiert wurde, machten wir den Vorschlag, bei Auf- und Umzonungen einen Mindestanteil gemeinnütziger Wohnungen vorzuschreiben. Mit dieser Forderung ergriffen wir 2008 im Alleingang das Referendum gegen die Umzonung des Zollfreilagers, bekamen aber massiv aufs Dach. Zwei Jahre später, beim Gestaltungsplan Manegg, gelang es dann gemeinsam mit SP und Grünen, einen Mindestanteil von 30 Prozent gemeinnütziger Wohnungen festzuschreiben. Zum Thema «Bezahlbarer Wohnraum» gab und gibt es immer viel zu tun, und das dürfte sich in absehbarer Zeit leider nicht ändern.
Die Wohnpolitik ist ja gleichzeitig die Sozialpolitik der AL…
Sicher nicht nur: In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre engagierten wir uns intensiv für die Verbilligung der Krankenkassenprämien. Mit einer ersten Initiative scheiterten wir 1999 ganz knapp, im zweiten Durchgang 2001 konnten wir immerhin eine Verbesserung von 100 Millionen Franken herausholen.
Einen weiteren grossen Erfolg feierte die AL mit der Abschaffung der Pauschalsteuer: Wie ist das gelungen?
Wir suchten bewusst ein Thema, wo wir die SVP aktiv kontern konnten. Wir gingen aufs Land, dorthin, wo die SVP stark ist, und fragten die Leute, ob sie es in Ordnung fänden, dass ausländische Millionär*innen steuerlich viel besser gestellt seien als Schweizer*innen. Natürlich fanden sie das nicht okay und sie stimmten mit uns. Dieser Erfolg war gleichzeitig ein Kippmoment in der Steuerpolitik. Nichts gegen Vorhaben wie die 99-Prozent- oder die 1:12-Initiative – aber wir brauchen auch Projekte, mit denen wir 50,1 Prozent Ja anpeilen können. Wir können nicht nur mit tollen Utopien gegen die Wand fahren, wir brauchen eine Mischung von Utopie und realpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten.
Was zeichnet die AL aus, was macht sie speziell?
Wir waren und sind oft die Schrittmacher innerhalb des linken Bündnisses. Bildlich gesprochen sind wir das kleine, wendige Greenpeace-Schlauchboot, während die grossen Dampfer SP und Grüne etwas langsamer unterwegs sind. Das ist ein wenig die DNA der AL. Laut Statuten kämpfen wir «für die Gleichberechtigung von Frau und Mann, gegen jegliche Diskriminierung und gegen die Zerstörung der Umwelt». Und – das ist zentral – für «eine solidarische Gesellschaft ohne Ausbeutung». Die AL will über den Kapitalismus hinauskommen. Uns ist auch Kritik am Staat nicht fremd: Wir sehen die zentrale Funktion des Staates darin, die soziale Sicherung und den Service Public zu gewährleisten. Gleichzeitig sind wir sehr empfindlich, wenn es um die Privatsphäre geht. Hier steht für uns der Datenschutz an oberster Stelle.
Für wen macht die AL Politik?
Wir überlegen uns stets, was politische Entscheide für die weniger Privilegierten bedeuten, für Menschen, die nicht so viele Ressourcen und kaum Einfluss haben. Beim aktuellen Thema Klimaschutz etwa müssen wir Strategien finden, wie wir sie mitnehmen können statt sie auszugrenzen. Sonst provozieren wir Aufstände à la «gilets jaunes». SoDiese Haltung wird uns mitunter als «konservativ» ausgelegt, aber es ist nun mal eine fundamentale Schwäche vieler Linker, dass sie den Spagat zwischen Sein und Bewusstsein unterschätzen.
Wie meinen Sie das?
Wer bei der Stadt oder beim Kanton arbeitet und in einer Genossenschafts- oder einer Eigentumswohnung lebt, dem oder der fehlt oft das Sensorium für die Existenzängste jener Menschen, die keine so sicheren Stellen und Wohnungen haben. Das habe ich während meiner 38 Jahre im Zürcher Gemeinderat immer wieder erlebt, bis weit in die Fraktionen von Grünen und SP hinein. Beim Kampf um die Reduktion übersetzter Abfall- und Abwassergebühren standen sie lange abseits, wir mussten uns Support bei der FDP und Albert Leiser, dem Direktor des Hauseigentümerverbands, holen. Wir haben keine Hemmungen, übers eigene Lager hinaus Mehrheiten zu suchen und zu finden, insbesondere dann, wenn die «Eigenen» nicht mitmachen. Es gehört ja auch zu den Absurditäten unserer Politik, dass vor allem SVP-Wähler*innen von den sozialen Errungenschaften profitieren, die wir gegen den Willen ihrer Partei herausholen und verteidigen, etwa in der Wohnpolitik oder bei der AHV.
Zurzeit reden alle vom Klima – was sagt die AL?
Wo es um die Gebäudepolitik geht, nehmen wir dezidiert den Standpunkt der Mieter*innen ein: Eine CO2-Abgabe, die zur Hälfte in einen Klimafonds fliesst, ist eine Subvention der Hauseigentümer*innen, denen man zudem noch Steuerabzüge schenkt. Sie kassieren die Zuschüsse, kündigen ihre Wohnungen leer und werfen sie nach der Sanierung zu viel höheren Preisen wieder auf den Markt – und der «Tubel», der das alles finanziert und zum Dank auf der Strasse steht, ist der Mieter, die Mieterin. Dagegen kämpfen wir.
Wohin zieht es die AL in den nächsten 30 Jahren?
Heute ist die AL in Zürich im Gemeinde- wie im Kantonsrat vertreten, und wir haben einen Stadtrat. Als logischer nächster Schritt sollte nun die nationale Ebene folgen; ein Sitz im Nationalrat wäre das perfekte Geburtstagsgeschenk. Für die gesamte Linke stellt sich die Grundsatzfrage, ob es uns gelingt, aus dem rot-grünen Oasenghetto von Zürich auszubrechen und die Agglomerationsgemeinden zu erobern. Meine Vision heisst «Zürich 2034»: Dass wir – 100 Jahre nach der letzten Eingemeindung – die Kreise 13, 14 etc. als Teil der Stadt begrüssen können. In der Siedlungsplanung, aber auch bei Bildung und Betreuung sind die heutigen Stadtgrenzen obsolet. Vom Zürcher Stadtrat sind da keine Impulse zu spüren. Ihm scheint es egal, wenn die Armen über die Stadtgrenze hinaus verdrängt werden: Hauptsache, es kommen genügend gutverdienende Akademiker*innen nach, die linksgrün wählen. Wir bleiben also wachsam und bewahren Unruhe.
Aus P.S. vom 11. Oktober 2019
Unruhe bewahren Nr. 1: Alternative Liste Zürich wird 30 (PDF)