Tektonische Verschiebungen
Die Nationalratswahlen brachten eine massive Stimmenverschiebung weg von den drei Bundesratsparteien SVP, SP und FDP, hin zu den Grünen und Grünliberalen. Am deutlichsten wird diese tektonische Verschiebung, wenn man die absoluten Wählerzahlen der Nationalratswahlen 2015 und 2019 vergleicht (Zahlen jeweils für den ganzen Listenverbund inkl. Jungparteien etc., bei der AL inklusive der PdA-Stimmen):
Partei |
2015 |
2019 |
Veränderung |
Veränderung % |
SVP |
130 575 |
111 300 |
-19 275 |
-14.8% |
SP |
91 040 |
72 174 |
-18 866 |
-20.7% |
Grüne |
29 319 |
58 697 |
29 378 |
100.2% |
glp |
34 727 |
58 352 |
23 625 |
68.0% |
FDP |
65 206 |
56 961 |
-8 245 |
-12.6% |
CVP |
17 805 |
18 382 |
577 |
3.2% |
EVP |
13 267 |
13 766 |
499 |
3.8% |
AL |
8 555 |
7 996 |
-559 |
-6.5% |
Fazit: Die SP verliert einen Fünftel ihrer Wähler von 2015, die SVP einen Siebtel, die FDP einen Achtel. Als absolute Wahlsieger verdoppeln die Grünen ihre Wählerzahl und die Grünliberalen legen um zwei Drittel zu. Bei den Klein- und Mittelparteien können CVP und EVP leicht zulegen, während AL/PdA leicht verlieren.
Tiefere Beteiligung trotz starker sozialer Mobilisierungen
Die ausserordentlich starken sozialen Mobilisierungen der Klimastreik- und der Frauenstreik-Bewegung liessen eine höhere Stimmbeteiligung erwarten. Trotzdem lag die Beteiligung im ganzen Kanton – und zwar regional ziemlich gleichmässig – um 2.81% tiefer als vor vier Jahren. Obwohl sich die Zahl der Stimmberechtigten um rund 37’000 Personen erhöht hat, sind diesmal mit 419’373 deutlich weniger gültige Wahlzettel eingelegt worden als 2015 (427’769). Weggefallen ist gegenüber 2015 die starke Mobilisierung der SVP durch das Asylthema. Zudem fehlte der Beteiligungsschub für die Neuvergabe der beiden Ständeratssitze, der vor allem bei der SP eine starke Mobilisierung für Daniel Jositsch auslöste, der auch als Zugpferd an der Spitze der Nationalratsliste fungierte.
Mobilisierungsverluste bei SVP, Wechselwählerverluste bei SP
Angesichts der tieferen Stimmbeteiligung kann das Wahlergebnis nicht allein durch eine Zusatzmobilisierung von Erst- und Neuwähler*innen durch die beiden grünen Parteien erklärt werden. Es haben zusätzlich massive Wechselwähler-Transfers stattgefunden. Während die SVP primär unter einer schwächeren Mobilisierung ihrer Basis zu leiden hatte, hat die SP zweifellos in grösserem Umfang Wählerstimmen an die Grünen, in geringem Umfang an die Grünliberalen verloren. Das bestätigt auch die Nachbefragung der TA-Media: Danach haben 20 Prozent der SP-Wähler*innen von 2015 diesmal die Grünen und 5 Prozent der Grünliberalen gewählt.
AL mit Handicap bei nationalen Wahlen
Bei nationalen Wahlen tritt die Alternative Liste generell mit einem doppelten Handicap an: sie ist nicht im Nationalrat vertreten und sie gehört auch nicht zu einer nationalen Dachorganisation. Damit wird die AL in den Medien praktisch vollständig ausgeblendet, in den Ratings, Umfragen und Wahlvorschauen werden im Wesentlichen nur die nationalen und im Parlament bereits vertretenen Parteien erwähnt.
Zudem reduziert sich bei nationalen Wahlen der Wähleranteil der AL gegenüber kantonalen Wahlen automatisch, wenn zusätzliche Parteien aus dem alternativ-linken Spektrum antreten, die bei den KR-Wahlen nicht präsent sind. Das waren diesmal die Piratenpartei und die Satirepartei Die Guten.
Unbegründete Angst vor verlorenen Stimmen
Da die AL nicht im Nationalrat vertreten ist, fürchtet ein Teil der bisherigen oder potentiellen AL-Wähler*innen, eine verlorene Stimme abzugeben. Zwar völlig zu Unrecht, weil die AL-Stimmen, falls es nicht zu einem Mandat reicht, dank der grossen Listenverbindung der SP oder den Grünen zugutekommen. Dank den AL-Stimmen wurde 2015 die heutige SP-Präsidentin Priska Seiler-Graf gewählt, diesmal konnte die SP dank den knapp 2% AL/PdA-Stimmen mit Celine Widmer ihren siebten Sitz retten.
Begrenztes AL-Potential
Diese Konstellation führt dazu, dass die AL bei nationalen Wahlen in der Regel in absoluten Zahlen gleich viel Wählerinnen und Wähler mobilisiert wie bei der Kantonsratswahl im Frühjahr, aber trotz massiv höherer Stimmbeteiligung nicht darüber hinaus zulegen kann und damit prozentual automatisch zurückfällt. 2015 mobilisierte die AL bei den KR-Wahlen 8’533 Wähler*innen, bei den NR-Wahlen holten AL und PdA mit 8’555 dann praktisch gleich viele.
Bei den Kantonsratswahlen vom März 2019 steigerten sich AL und PdA zusammen auf 10’123 Wählerinnen und Wähler und verbesserten sich von 2.98% auf 3.32%.
Enttäuschender Rückschlag
Aufgrund bisheriger Erfahrungswerte konnten wir diesmal mit mindestens 10’000 Wähler*innen rechnen. Diese Annahme hat sich bei weitem nicht erfüllt. Wir konnten den im Frühling 2019 verbuchten Zuwachs an Wähler*innen nicht konsolidieren und sind im Gegenteil noch knapp hinter das NR-Ergebnis von 2015 zurückgefallen:
|
2015 |
2019 |
2015 |
2019 |
AL |
7 534 |
6 703 |
1.77% |
1.61% |
PdA |
1 021 |
1 293 |
0.24% |
0.31% |
Total |
8 555 |
7 996 |
2.01% |
1.92% |
Der Rückschlag ist primär auf Wechselwählerverluste an die Grünen zurückzuführen. Für etliche Wählerinnen und Wähler, die mit der AL und ihrer Politik sympathisieren, war es bei dieser Wahl vorrangig, mit der Wahl der Grünen ein unübersehbares Signal für den Kampf gegen den Klimawandel zu setzen. Diesem Meta-Trend konnten wir nichts entgegensetzen.
Sitzgewinn dank kleiner Listenverbindung?
Für einen Sitzgewinn innerhalb der Listenverbindung wären 10’311 Wähler*innen oder 2.47% nötig gewesen – also etwa gleich viel, wie wir bei den Frühjahrswahlen mobilisieren konnten. Diese Marke haben wir klar verfehlt. Rein rechnerisch wäre ein Sitzgewinn für die AL möglich gewesen, wenn wir bloss eine kleine Listenverbindung mit den Piraten und den Guten eingegangen wären. Diese wäre auf 11’257 Wähler*innen und 2.70% gekommen und hätte damit ein Restmandat zulasten der SP erobert. Allerdings ist offen, ob sich bei einer solchen Konstellation nicht etliche AL-Wähler*innen, um sicher zu gehen, für SP oder Grüne entschieden hätten.
Frauenwahl auf der AL-Liste
Aufschlussreiche Daten liefert die Panaschierstatistik. 44 Prozent – etwas weniger als die Hälfte der AL-Listen – wurden verändert eingelegt. Wievielmal Kandidat*innen gestrichen oder kumuliert worden sind, verrät die Panaschierstatistik nicht; dokumentiert ist bloss der Saldo aus Streichungen und Kumulierungen. Hier zeigt sich ein markanter Unterschied zwischen Frauen und Männern: Per Saldo wurden Frauen im Schnitt auf jeder sechsten veränderten AL-Liste (17%) gestrichen, Männer dagegen auf jeder dritten AL-Liste (34%). AL-intern, ohne Berücksichtigung der Panaschierstimmen auf anderen Listen, rutschten damit alle Frauen nach oben, die Männer nach unten. Einzig Walter Angst, Markus Bischoff und David Garcia Nunez konnten sich zwischen den Frauen platzieren. Diese Tendenz zeigte sich im Ansatz bereits bei den letzten Nationalratswahlen und hat sich dieses Frühjahr bei den Kantonsratswahlen akzentuiert.