Die Gründung der AL Zürich reicht in die Endphase des Kalten Kriegs zurück. Als informelles Geburtsdatum – die AL war bis 2007 ein loser basisdemokratischer Verbund ohne eigene Rechtspersönlichkeit – kann die Diskussionswoche von «Züri 1990» vom 23. bis 30. September 1989 in Oberrickenbach gelten. Ein Politpolizist und Sachbearbeiter der Fachgruppe «Terror-Abwehr im Stadtzürcher KK III» war vor Ort dabei und rapportierte:
«Nach Rücksprache mit Lt. A.A. des Polizeikommandos Nidwalden wurde auf Grund der in verschiedenen Zeitungsartikeln erwähnten Thematik der Aufmarsch der Teilnehmer […] in der Zeit von 08.45-16.30 Uhr, in Zusammenarbeit mit Fw B.B. KAPO Zürich, observiert. Gemäss eigenen Feststellungen erschienen max. 30 Teilnehmer.»
Bunter Haufen aus Kultur und Politik
«Züri 1990» war ein buntes Konglomerat. Hier trafen Politaktivist*innen aus bisher konkurrierenden Gruppierungen wie POCH, PdA, SAP auf Leute aus der alternativen Musik- und Film-Szene: Mitglieder des Disco-Syndikats, Vera KAA, RAMS, Markus Punky Kenner, Koni Frei, Samir etc. Im März 1990 trat die Gruppierung zu den Zürcher Gemeinderatswahlen an, jetzt mit dem Zusatz «Alternative Liste», weil einige «Züri 1990» doch etwas zu beliebig fanden. Die «Alternative Liste Züri 90», die im Kreis 3 als «Quartierliste 3» und im Kreis 5 als «Stärnefoifi» antrat, eroberte auf Anhieb vier Sitze: gewählt wurden die Bisherigen Niggi Scherr und Doris Vetsch (beide ex-POCH), Christine Weibel (ex-SAP) und der Quartieraktivist Hannes Lindenmeyer.
«Vielfalt ist unser Reichtum»
Die Slogans von damals passen auch heute noch: «Vielfalt ist unser Reichtum», «Wir sind auch ohne Banken schön», «Wir bewegen uns auch ohne Auto» und – auf die Fichen-Affäre gemünzt – «Unsere Daten sind nicht zu fassen» mit einem Samir-Porträt mit Käppi und Mafia-Brille.
«Wir träumen von unserer Stadt»
Im Leitartikel der Wahlzeitung hiess es:
«Wir träumen. Nicht von der dörflichen Idylle am Bach, nicht vom heilen Gestern. Wir träumen von der Stadt. Von unserer Stadt. Von Züri 1990.
Unsere Stadt ist offen: Zurigo – città aperta. Hier wird in vielen Sprachen, Dialekten, Hautfarben geliebt und gehasst, gefeiert und gearbeitet, gelitten und gestritten. In unserer Stadt ist kein Raum für Angst vor dem Fremden. Ihre Vielfalt ist unser Reichtum.
Unsere Stadt redet mit vielen Stimmen. Noch ungebrochen die der Kinder, denen sie in Zukunft gehören wird. Kräftiger werdend die der Frauen. Die der Mieter, denen Wohnen not tut. Zu leise die der Ausgestossenen vom Platzspitz, der Fremden, der Alten und Armen.
Wir träumen. Von Entfaltung statt Verwaltung. Von kinder- statt autogerechten Strassen. Von öffentlichen Räumen statt privaten Fernsehstuben. Vom Neuen Wohnen, das wieder enger mit dem Arbeiten zusammenrückt. Vom Tempo Mensch statt Tempo 100. Von weniger Polizei- und mehr Klavierstunden.
Fremd sind uns die Geldwäscher, die unsere Stadt den Meistbietenden verdealen. Fremd sind uns, die vier Räder mit der Freiheit verwechseln. Fremd sind uns Ruh-und-Ordnungs-Männer, die nach Konzentrationslagern für Drogensüchtige rufen. Fremd sind uns, die Kultur mit Sponsoring gleichsetzen. Fremd die Spekulanten, die uns unsere billigen Wohnungen wegnehmen.
Züri 1990 braucht weder Platzspitz-Säuberer noch Auto-Immobilisten. Auch nicht die Prinzipienlosen, die vor lauter Mitte den Weg nicht finden. Unsere Stadt darf nicht länger allein ihre Stadt bleiben. Wir sind keine Komplizen. Aber wollen auch nicht abseits stehen. Wir verlangen den Anteil, der uns zusteht.
Wir mischen uns ein.»
Ja, wir haben uns eingemischt und mischen uns weiter ein. Heute stellen wir in Zürich einen Stadtrat und sind im Kantonsrat und den kommunalen Parlamenten von Zürich, Winterthur und Dietikon vertreten. Fehlt nur noch ein Sitz im Nationalrat. Den wollen wir uns am 20. Oktober holen. Als Geburtstagsgeschenk.
Niggi Scherr
Unruhe bewahren Nr. 1: Alternative Liste Zürich wird 30 (PDF)