Radikale Linke verdoppelt Stimmenanteil und gewinnt drei Sitze
«Un raggio di sole entra nel parlamento» – «Ein Sonnenstrahl dringt ins Parlament» – kommentiert das alternativ-linke Tessiner Forum Alternativo den fulminanten Wahlerfolg der radikalen Linken bei den Wahlen vom 7. April. Insgesamt konnten die Bewegung für den Sozialismus (Movimento per il Socialismo, MPS) und der Partito Comunista (PC) ihre Sitzzahl von 2 auf 5 steigern.
Die politischen Verhältnisse innerhalb der Tessiner Linken sind einigermassen komplex. Die seit 2007 als Partito Comunista (PC) mit einem militanten Linkskurs auftretende Tessiner Sektion der Partei der Arbeit (PdA) wurde 2014 von der Mutterpartei ausgeschlossen und tritt seither als eigenständige Partei auf, während einige PdA-Mitglieder unter dem Namen Partito Operaio Popolare (POP) eine neue PdA-Sektion gründeten. 2015 traten MPS und PC auf einer gemeinsamen Liste an, während der POP separat kandidierte. 2019 bildeten MPS und POP eine gemeinsame Liste und der PC kandidierte separat. Von daher ist es etwas schwierig, die Wahlergebnisse zu vergleichen. Klar ist jedoch, dass MPS, PC und POP zusammen die Zahl der eingelegten Listen von 1’863 auf 3’596 und ihren Wähleranteil von 1.87% auf 3.62% praktisch verdoppeln konnten. Zulegen konnten ausser ihnen nur die Grünen (von 6.02% auf 6.63%, ohne Sitzgewinn) und – entgegen dem nationalen Trend – die SVP (+1.02%, + 2 Sitze), die offensichtlich von unzufriedenen Wählern der Lega profitierten, deren Absacken jedoch nicht kompensieren konnten (-4.37%, – 4 Sitze).
Aussichtsreiche Einheitsliste für Nationalratswahl
Schon vor einiger Zeit haben das Forum Alternativo, der Partito Comunista und die Grünen für die Nationalratswahlen eine gemeinsame Liste vereinbart. Am 27. März hat die Mitgliederversammlung des Forums als erste dieses Vorgehen offiziell abgesegnet. Bei den Grossratswahlen kamen Grüne und PC auf 7.86%, zusammen mit MPS/POP auf 10.25%. Nimmt man die SP (14.47%) hinzu, kam Linksgrün insgesamt auf 24.72%. Das Tessin hat Anspruch auf 8 Nationalratssitze, für ein Vollmandat sind 11.11% erforderlich. Es bestehen also realistische Chancen, dank dem Aufschwung der radikalen Linken und der schwächelnden Lega den 2011 verlorenen zweiten Sitz der Linken zugunsten der Forum-Alternativo-Liste zurückzuholen. Nach den Wahlen hat jetzt auch das MPS einen Aufruf für eine gemeinsame Liste lanciert. Falls auf der Liste eine Vertreterin oder ein Vertreter der radikalen Linken gewählt wird, ist vereinbart, dass sie oder er Hand bieten könenn zur Bildung einer alternativ-linken Fraktion, wenn schweizweit die dafür nötigen fünf Sitze zusammenkommen.
Rückenwind für Alternative Linke auch in der Waadt
Leider konnten sich Ensemble à Gauche (EAG) und der POP, die kantonale Sektion der PdA, für die Regierungsratsersatzwahl vom 17. März in der Waadt nicht auf eine gemeinsame Kandidatur einigen und traten getrennt an. Obwohl nur ein Sitz zur Wahl stand und sowohl Jean-Michel Dolivo (EAG, SolidaritéS) wie Anaïs Timofte (POP) als reine Zählkandidat*innen ohne jede Chance antraten, erzielten sie ein bemerkenswertes Ergebnis: 5’983 Wählende oder 4.12% gaben Dolivo und 4’743 oder 3.26% Timofte die Stimme. Das sind zusammen 7.38% und mit 10’726 rund doppelt so viel Wählende wie bei den Nationalratswahlen von 2015.
Vormarsch bei den Nationalratswahlen in Sicht
Aufgrund des Bevölkerungswachstums erhalten die Waadt und Genf 2019 je einen zusätzlichen Nationalratssitz. Damit sinkt das Quorum für ein Vollmandat in der Waadt auf 5.00%, das entspricht knapp 9’000 Wählerstimmen. Überall, wo sie diesen Frühling bei Wahlen angetreten sind – in Zürich, Waadt und Tessin – haben die Alternativ-Linken als Einzige neben Grünen und Grünliberalen zulegen können. In Zürich haben sich die AL und die erstmals kandidierende PdA von 8’533 auf 10’123 Wählende oder 2.98% auf 3.32% verbessern können; können die beiden Parteien diese Wählerzahl im Herbst halten, ist ein Nationalratsmandat in Griffnähe. Dank dem bisherigen Sitz der PdA in Neuenburg, dem tieferen Sitzquorum in Genf und der Waadt und dem elektoralen Vormarsch in der Waadt, Zürich und dem Tessin bestehen begründete Hoffnungen auf einen Wahlerfolg und eine alternativ-linke Fraktion bei den Nationalratswahlen vom 20. Oktober 2019.
Die Basis für den Erfolg ist gelegt. Mit einer klugen Allianzpolitik (gemeinsame Listen oder Unterlistenverbindungen) können wir es schaffen. Jetzt können es nur noch unüberlegte Alleingänge oder identitäre Profilierungsmanöver einzelner Gruppierungen vermasseln.
Niklaus Scherr