Hohe Stimmbeteiligung
Die allgemeine Stimmbeteiligung war am 4. März mit 57.6% ungewöhnlich hoch, sogar noch zweieinhalb Prozent höher als bei der Masseneinwanderungs-Initiative vor vier Jahren. Grund dafür ist eindeutig die No-Billag-Initiative, die stark mobilisierte. Allerdings nahmen nur drei von vier Abstimmenden auch an der Gesamterneuerungswahl teil. Beim Gemeinderat legten 43.9% (2014: 42.6%) und beim Stadtrat 40.8% (2014: 42.2%) einen gültigen Wahlzettel ein. In absoluten Zahlen: Von den 131’772 No-Billag-Abstimmenden beteiligten sich bloss 100’512 an den Gemeinderats- und gar nur 93’415 an den Stadtratswahlen. Dass sich weniger Leute an Wahlen als an Abstimmungen beteiligen, entspricht einem konstanten Trend. Ein Teil des Elektorats übt seine Mitspracherechte grundsätzlich nur über Abstimmungen aus und ist nicht bereit, Entscheidungsmacht an Parteien zu delegieren.
Demobilisierung in den SVP- und starke Mobilisierung in den AL-Hochburgen
Die Diskrepanz zwischen Abstimmenden und Wählenden ist diesmal besonders deutlich ausgefallen. Am markantesten ist sie in den SVP-Hochburgen in Zürich-Nord: im Kreis 11 nahmen 35%, im Kreis 12 gar 40% der No-Billag-Abstimmenden nicht an der Stadtratswahl teil (ganze Stadt: 29%). Bei der Gemeinderatswahl sieht es ähnlich aus: In Schwamendingen beteiligten sich 6’834 Personen an der No-Billag-Abstimmung, aber nur 4’501 legten einen Gemeinderatszettel in die Urne.
Der Befund ist klar: die verstaubte «Top5»-Mythologie der bürgerlichen Hinterzimmer-Strategen lockte die SVP-Wählerschaft nicht hinter dem Ofen hervor und das opportunistische Lavieren von Susanne Brunner zwischen Economiesuisse-Lobbyismus und SVP-Grundsatzpositionen raubte der Partei noch den Rest an Glaubwürdigkeit. Auch mit ihrer Ja-Parole gelang es der SVP nicht, No-Billag-Protestwähler für die Wahlurne zu ködern.
Ganz im Gegensatz dazu war die Wahlbeteiligung in den linken Kreisen 3 und 4/5 deutlich höher als üblich. Während sie sonst unter dem städtischen Schnitt liegt, lag sie diesmal im städtischen Mittel.
Wolff deklassiert Leutenegger
Bei den Stadtratswahlen wurde Richi Wolff glänzend bestätigt. 2014 lag er mit 56 Stimmen nur hauchdünn vor Filippo Leutenegger, diesmal verwies er den Möchtegern-Stapi mit 3953 Stimmen Vorsprung auf Platz 7. Mit 48’311 Stimmen erreichte er ein hervorragendes Ergebnis, gegenüber 2014 verbesserte er sich um 6’000 Stimmen.
Gesamtstädtisch kam Wolff auf einen Stimmenanteil von 51.7%, wurde also von einer Mehrheit gewählt (2014: 45.3%). Damit schöpfte er rechnerisch zu 97% das Wählerpotential der linksgrünen Parteien SP, Grüne, AL und PdA aus, die bei den Gemeinderatswahlen auf 53.3% kamen. Natürlich bedeutet das nicht, dass ihm praktisch alle links und grün Wählenden die Stimme gegeben haben. Richi hat selbstverständlich auch Stimmen von Grünliberalen und von Bürgerlichen erhalten und umgekehrt haben ihm SP-WählerInnen und Grüne die Stimme verweigert. Die statistische Korrelation zeigt jedoch, dass die Wahlempfehlung von SP und Grünen zu einem grossen Teil befolgt wurde. Auch in den einzelnen Wahlkreisen verläuft Wolffs Stimmenanteil mit einer Oszillation zwischen 96% und 102% praktisch deckungsgleich mit dem linksgrünen Wähleranteil bei der Parlamentswahl. Eine Ausnahme bilden die Kreise 9 und 12, wo Richi bloss auf 92% respektive 90% der linksgrünen Stimmen kommt. In diesen eher sozial-konservativen Wahlkreisen dürfte die Kontroverse um das Koch-Areal und die Besetzerszene Spuren hinterlassen haben. Umgekehrt übertrifft Wolff ausgerechnet in den Wahlkreisen 1+2 und 7+8 – den beiden ausgeprägten FDP-Hochburgen – den Wähleranteil von Linksgrün. Das sollte FDP-Präsi Severin Pflüger zu denken geben.
«gauche plurielle» im Stadtrat – GLP löst CVP ab
Im Stadtrat bleibt das Kräfteverhältnis unverändert bei 6 Linksgrünen und 3 Bürgerlichen und Mitte-Vertretern. Anstelle der schwächelnden CVP übernimmt neu die GLP mit Andreas Hauri den Mitte-Sitz. Nach dem Kandidaturverzicht von Claudia Nielsen und der problemlosen Wahl der Grünen Karin Rykart ergibt sich auf der linksgrünen Seite mit 3 SP, 2 Grünen, 1 AL eine ausgewogenere Verteilung im Sinne einer „gauche plurielle“.
Massiver Linksrutsch im Parlament
Die Wahlen von 2010 und 2014 waren durch eine grosse Stabilität der beiden Blöcke gekennzeichnet. Linksgrün (AL-Grüne-SP) erreichte 2014 46.22% gegenüber 45.90% vier Jahre zuvor, der engere „Bürgerblock“ (SVP-FDP-CVP) kam auf 38.00% gegenüber 38.25% im Jahr 2010. Diesmal kam es zu einer massiven Verschiebung zwischen den Blöcken. Die linken und grünen Parteien (SP, Grüne, AL, PdA) erhöhten ihren Wähleranteil um über 10’000 Stimmen von 43’466 auf 53’601, in Prozenten von 46.2% auf 53.3%
Vom Aufschwung profitieren alle linken und grünen Parteien, klar am meisten die SP. Mit einem Wählerzuwachs von 5’436 legt sie um einen Fünftel zu und kommt auf 32.57% (+3.53%). Damit erreicht sie nach zweimaligen Rückschlägen und Sitzverlusten wieder die Wählerstärke von 2006. Die Grünen verbessern sich deutlich um 2’123 Wählende auf 12.00% (+1.43%).
Markante Stimmengewinne der AL
Auch die AL gehört klar zu den Gewinnern. Bereits bei den Gemeinderatswahlen 2014 konnte sie ihre Wählerzahl von 3‘500 auf 6‘072 fast verdoppeln. Jetzt legt sie nochmals um knapp ein Drittel auf 7’892 zu, ihr Wähleranteil steigt von 6.46% auf 7.85%. Am markantesten ist der Zuwachs in den Kreisen 3 (+2.34%), 10 (+2.08%) und 12 (+1.96%). Sogar in ihrer absoluten Hochburg, dem Wahlkreis 4/5, vermag sich die AL nochmals um 1.43% auf 16.31% zu steigern. Der AL-Zuwachs ist umso bemerkenswerter, als 2018 erstmals die Partei der Arbeit (PdA) mit eigenen Listen antrat. Die PdA mobilisierte gesamtstädtisch 756 Wähler (0.75%), von denen wohl viele ohne die PdA-Kandidatur die AL gewählt hätten.
11. Sitz eher knapp verfehlt
Dank dem Wählerzuwachs gewann die AL ein Mandat hinzu und kommt jetzt auf 10 Sitze. Einen 11. Sitz verfehlte sie relativ knapp: es fehlten 134 Wählerinnen und Wähler oder 0.14%. Man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es ohne die PdA-Liste dafür gereicht hätte. Der zusätzliche Sitz wäre in den Kreis 12 gegangen.
Kontinuierlicher Zuwachs seit 2006
Im Zeitvergleich zeigt sich ein stetiger Anstieg seit 2006:
Jahr | Wähler | Prozent |
2006 | 2 517 | 3.65% |
2010 | 3 500 | 4.18% |
2014 | 6 072 | 6.46% |
2018 | 7 892 | 7.85% |
Einbruch der SVP, CVP fliegt aus dem Rat
Die Parteien der bürgerlichen Koalition (SVP, FDP, CVP) büssen gegenüber 2014 insgesamt über 2’700 Wählerinnen und Wähler ein und fallen von 38.00% auf 32.84% zurück. Hauptverliererin ist – wie schon 2014 – die SVP. Nach dem Rückgang um 1.29% im Jahr 2014 erleidet sie jetzt einen eigentlichen Einbruch: sie verliert 3’300 Wähler oder fast einen Fünftel ihrer Anhängerschaft und geht prozentual von 17.34% auf 12.94% zurück (-6 Sitze). Mit einem Rückgang um 0.96% setzt die CVP zum dritten Mal in Folge ihren Krebsgang fort und fliegt komplett aus dem Parlament, weil sie die 5-Prozent-Hürde in keinem Wahlkreis mehr schafft. Als klassische Milieu-Partei der katholischen Diaspora kann sie bei der steigenden Stimmbeteiligung nicht mithalten.
Mobilisierung und Gentrifizierung
Wie die unterschiedliche Entwicklung der Stimmbeteiligung zeigt, bildet das Wahlergebnis zweifellos die asymmetrische Mobilisierung der beiden Lager ab: starke Mobilisierung bei den linksgrünen Parteien, deutliche Demobilisierung bei SVP und CVP. Als Motivationsfaktor spielte dabei die No-Billag-Initiative sicher den Linksgrünen in die Hände. Das ist jedoch nur ein Teil der Erklärung. Daneben beginnt sich auch die schleichende soziale Umschichtung der wachsenden Stadt auszuwirken: mehr Jüngere, mehr Höherqualifizierte und Besserverdienende, Zunahme von Ersatzneubauten und Verdrängung von Älteren und Kleinverdienern. Nicht zufällig verzeichnen SVP-FDP-CVP gerade in dem von einer starken Abbruch- und Neubautätigkeit geprägten Kreis 12 den grössten Aderlass (-9.20%). Gleichzeitig realisieren die Grünen (+3.80%) und die Grünliberalen (+1.45%) hier ihre stadtweit höchsten Zuwächse.
Neue Koalitionsmuster möglich
Mit 69 Sitzen für SP, Grüne und AL mutiert das Parlament für den Rest-Bürgerblock von FDP und SVP zur chambre introuvable. Während Linksgrün deutlich über dem absoluten Mehr von 63 liegt, das für die Überwindung der Ausgabenbremse erforderlich ist, verfügen FDP und SVP mit 38 Sitzen nicht einmal mehr über die Stimmkraft, die es braucht, um gegen einen Ratsbeschluss ein Behördenreferendum zu ergreifen (42 Stimmen). Sieht man vom klassischen Links-Rechts-Schema ab, sind neu verschiedene Allianzen möglich. Neben der linksgrünen Allianz (SP, Grüne, AL mit 69 Stimmen) können auch SP, Grüne und EVP zusammen das absolute Mehr von 63 erreichen. Möglich ist auch eine rot-blaue Mehrheit von SP und FDP mit zusammen 64 Stimmen. Oekologische Allianzen unter Ausschluss der AL sind für SP, Grüne und GLP möglich (73 Stimmen).
7. März 2018
Niggis Wahlblog Nr. 5: Statistische Nachlese (PDF)
Kurzpräsentation Ergebnisse mit Grafiken (PDF)
Daten Stadtratswahlen 2018
Daten Gemeinderatswahlen 2014 – 2018
Stimmbeteiligung 2014 – 2018
Wählerentwicklung AL 2006 – 2018