Wird vor einem Schweizer Gericht ein Fall eines Fussballfans verhandelt, fällt immer wieder ihr Name. Manuela Schiller hat sich in den letzten Jahren wiederholt als Anwältin der Fans positioniert. Nicht, weil sie alle Handlungen der Fans verstehen oder gar gutheissen würde. Aber, weil sie für Fananliegen sensibilisiert wurde, als die Zürcher Polizei 2004 alle im Extrazug angereisten Fans des FC Basel einkesselte. Für SENF erzählt die Anwältin, wie sie zu dieser Rolle kam und was für sie die Faszination am Fussball ausmacht.
Fussball hat mich fast mein ganzes Leben begleitet. Als Kind habe ich in der Badi in Dietikon immer beim «Tschüttelen» auf der Wiese mitgespielt. Wir waren Erwachsene und Kinder. Mehrheitlich Ausländer. Ich war meistens das einzige Mädchen. Auf dem Pausenplatz im Fondlischulhaus durften wir in Zweiermannschaften mit einem Tennisball spielen. Ich war immer im Goal und wurde als Mädchen akzeptiert. Die Grümpelturniere des FC Dietikon waren das Ereignis des Sommers. Ich habe mehrere Jahre mit gemischten Plauschmannschaften mitgemacht. Wir haben in einem Jahr doch tatsächlich mit Kühlturm- Gestellen gespielt. Als Protest gegen die AKW. Mein Vater nahm mich und meinen Bruder in den Letzigrund mit. Als Mädchen habe ich brav für meinen Bruder einen Schal in blauweiss gestrickt. Mädchen- und Frauenfussball war damals kein Thema.
Als ich begann, mich politisch zu engagieren, entfernte ich mich von der Welt des Fussballs. Statt Fussball zu spielen und zu verfolgen, ging ich an Demos und Sitzungen. Geändert hat sich das erst wieder, als meine Kinder unbedingt Fussball spielen wollten. Wir begleiteten sie jahrelang an die Trainings, an jedes Spiel und an viele Turniere, im Quartier und auswärts. Ich kenne aus dieser Zeit die meisten Fussballplätze und Turnhallen des Kantons Zürich, viele im Aargau, aber auch einige im Kanton Schwyz. Unser Wochenendfahrplan richtete sich nach den Spielplänen.
Ich habe dabei unzählige Gespräche über Gott und die Welt mit anderen Eltern geführt, mit ihnen Kaffee und Bier getrunken, Kuchen, Hotdogs und Pommes vertilgt. Das verstanden meine politischen Freunde damals nicht wirklich. Wie konnte ich in Albisrieden wohnen, so viel Zeit mit diesen Menschen verbringen und mein Leben danach ausrichten? Heute ist es ja auch in diesen Kreisen angesagt, die Kinder im Quartier im Fussballclub anzumelden. Wenn ich manchmal Gespräche belausche, bin ich froh, dass ich nicht mehr dazugehöre. Ich finde Leistung nicht nur schlecht, ich verstehe, dass man als Mannschaft gewinnen will. Manchmal muss ein Foul einfach sein. Nicht jeder Spruch muss für mich politisch korrekt sein. Ich habe nichts dagegen, dass auf dem Sportplatz geraucht und gesoffen wird. Mir ist es egal, wenn die Veteranen nicht immer ein gutes Beispiel abgeben. Und ich finde auch, dass wir Frauen den Männern ihren Fussball, die Garderobe und den Stammtisch gönnen sollten. Ich will die Männer auch nicht immer in meinen Frauenrunden dabeihaben. Ebenso liess ich meine Kinder alleine in die Südkurve gehen, als sie das wollten. Deshalb ging ich nur noch selten in den Letzigrund.
Der Altstetter-Kessel vom 4. Dezember 2004 führte dazu, dass ich mich seither regelmässig beruflich und politisch mit dem Thema Fussball, Repression, Fans, Ultras, Polizei und so weiter beschäftige. Ich habe nicht nur hunderte von Fans beraten und vertreten. Ich habe auch neue Freundschaften geschlossen, die Justiz in anderen Kantonen kennengelernt, mit einigen zusammen fansicht.ch gegründet (sie ruhe in Frieden). Ich als schon älteres Semester habe Einblick in das Innenleben vieler Deutschschweizer Kurven und damit in die wohl grösste Jugendbewegung der Schweiz erhalten. Selbst eine Saisonkarte für die Stehplätze im Letzigrund besitze ich nun. Und obwohl ich einen Vater, einen Bruder, einen Ehemann und einen Sohn habe, habe ich vielleicht erst dadurch wirklich viel über Buben und (junge) Männer und ihr Verhältnis zu Gewalt, Körperkult(ur) und Männerfreundschaften gelernt.
Meine Einstellung zu Gewalt hat sich nicht geändert. Ich konstatiere immer noch verwundert, dass sich viele Fans derart mit «ihrer» Gruppierung, «ihrer» Kurve, «ihrem» Club identifizieren, dass sich ihre Freizeit für Jahre zum grössten Teil auf die Aktivitäten rund um die Spiele und mit ihren Kollegen beschränkt. Bist du FCZ-Fan, hast du keine Freunde, die GC-Fans sind, und umgekehrt. Man verkehrt nicht in denselben Lokalen, geht sich aus dem Weg und im Extremfall kommt es auch zu gegenseitiger Gewalt – nicht nur an den Spieltagen. Ich mag die Schlägereien nicht, ich mag die Böller nicht. Zu Pyrotechnik habe ich ein ambivalentes Verhältnis. Genauso wenig mag ich aber Benimmdiktate, Repression, Überwachung, Konformität. Ich kann nicht fassen, wie viele – auch fortschrittliche – Menschen sofort nach neuen Regeln, Bestrafung, lebenslänglichen Stadionverboten und ähnlichem schreien. Das Märchen von den guten Fans, die Fussball sehen wollen und eine positive Fankultur leben, und den Chaoten und Hooligans, die sich gar nicht für das Spiel und den Club interessieren, sondern einfach Gewalt und Hass ausleben, wird durch das Wiederkäuen nicht wahrer. Die Wahrheit ist wie immer kompliziert. Es gibt nicht einfach blau oder weiss.
Fussball ist ein faszinierender und hinreissender Sport. In unseren Stadien wird uns das aber selten geboten. Trotzdem ziehe ich – wie die meisten derjenigen Fans, die die Spiele in den Kurven verfolgen – ein Livespiel mit einer Gurkentruppe jedem Champions League-Spiel im Bezahlfernsehen vor. Denn zum Fussball gehören eben auch das gemeinsame Erlebnis, das gemeinsame Fachsimpeln und Analysieren, die dummen Sprüche, das Schwelgen in Erinnerungen, die Choreos, Pyros und komischen Vereinsstrukturen, natürlich auch der schnöde Mammon. Und vieles mehr.
Ich kann aber mit dem Begriff «Modefan » nicht so viel anfangen. Ich freue mich, dass es heute und seit längerem auch in hippen urbanen Kreisen angesagt ist, ins Stadion zu gehen. Es ist auch ein gutes Gefühl, dass es nun beim Frauen-WC ebenfalls Schlangen hat. Und dass zumindest in der Schweiz in den Kurven rechtsextremes und rassistisches Gedankengut nicht mehr angesagt und immer weniger toleriert wird (auch wenn das viele rechtschaffene Linke noch nicht gemerkt haben und in ihren alten Vorurteilen verweilen). Hingegen ärgert mich, dass bei diesen Fans die gute Laune aufhört, wenn die Fans sich erlauben, wild, frech oder unbotmässig zu sein, und sich nicht an die Regeln und Gesetze halten. Das Mantra des links-grünen Mainstreams haben sie verinnerlicht. Erlaubt ist, was nicht stört. Wenn dann Polizei, KKJPD, SFL, SBB und Medien immer neue repressive Massnahmen, Auflagen und Verbote fordern oder durchsetzen, bleiben nicht mehr viele, die Fragen stellen, hinterfragen, dagegenhalten.
Mein Engagement für meine Mandanten aus diesem Umfeld hat deshalb zwei Gründe: Als Strafverteidigerin und Bürgerin bin ich selbstverständlich der Meinung, dass jeder Beschuldigte ein Recht auf ein faires Verfahren und damit auch auf eine gute Verteidigung hat. Darüber hinaus möchte ich meinen Beitrag leisten, dass rechtsstaatliche Garantien, die alle einmal erkämpft werden mussten, nicht so einfach wieder abgeschafft werden. Ich möchte nicht in einer Schönwetterdemokratie sterben. Im grossen Massstab werden nicht nur bei uns viele Grundrechte unter Hinweis auf die Terrorgefahr angeritzt und beschränkt. Im kleineren Massstab sucht sich die herrschende Klasse für neue Polizeistrategien und die Modernisierung des Repressionsapparates gerne eine Gruppe aus, welche in der Öffentlichkeit gerade wenige Freunde hat. Eingrenzungen und Ausgrenzungen wurden in der Schweiz so zum Beispiel 1995 zunächst via Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht eingeführt. Später folgten Rayonverbote im Kampf gegen häusliche Gewalt. Heute gibt es Rayon- und Ausreiseverbote sowie Meldeauflagen für Fussballfans. Wenn es rund um Fussballspiele zu Gewalt, Polizeieinsätzen, Verkehrsumleitungen und anderem kommt, hinterfragt praktisch niemand die Meldungen der Polizei und die Berichterstattung in den Medien. Mit meiner Arbeit versuche ich, mit meinen Mitteln und meinen Möglichkeiten dagegenzuhalten.
Aus Senf, Das St. Galler Fussballmagazin #08 (Dezember 2017)