Von Andrea Leitner, Gemeinderätin AL
Bis 2002 war die Spiegelgasse 1 als Geburtsstätte des Dadaismus (was sie genau genommen nicht ist) im kollektiven Zürcher Kultur- und Geschichtsbewusstsein ganz, ganz nach hinten gerutscht. 1997 verschlief die Stadt die Möglichkeit, das Gebäude günstig zu erwerben. Dann wurde es 2001 von der Rentenanstalt (heute Swiss Life) erworben, die damit Renditeträchtiges vorhatte, aber zuwartete. Nur dank der Besetzung durch eine Gruppe geschichtsbewusster Künstler*innen landete das Cabaret Voltaire wieder in der Gegenwart und 2008 stimmte eine Mehrheit der Zürcher*innen dafür, dass die Stadt für den Mietzins aufkommt. Heute, ein Jahr nach dem 100-Jahr-Dada-Jubiläum, mit dem die Stadt eifrig internationales Standortmarketing betrieb, ruft es nun aus aller möglichen Zürcher Munde: „Ich bin Dada!“ und Markus Notter, um blumige Sprüche nie verlegen, preist die doch relativ neu wiederentdeckte Spiegelgasse 1 geradezu als «Eiffelturm von Zürich». Das Ganze erinnert weniger an den internationalistischen Geist von Dada als an die wendehalsige Provinzseele, die dem Kellerschen Seldwyla innewohnt.
Mitten im Dada-Jubiläums-Hype hat die Stadtpräsidentin eine Vorlage präsentiert, die – so AL-Gemeinderätin Rosa Maino im Rat – „90% Liegenschaftspolitik mit 10% Kulturförderbelangen vermischt“. Dem darin eingepackten Liegenschaftenschacher kann niemand ernsthaft zustimmen, der wohnpolitisch das Herz auf dem linken Fleck hat.
Kulturpolitisch verkehrte Welt
Vollends unverdaulich gemacht wurde die Vorlage aber erst durch eine Mehrheit des Gemeinderates unter Anführung der Rappenspalter-Fraktion der Grünliberalen. Sie kürzte den vom Stadtrat vorgeschlagenen, eh schon mageren Betriebsbeitrag von 150‘000 auf 101‘000 Franken pro Jahr und knüpfte ihn direkt an das Zustandekommen des Liegenschaftentauschs. So wird, wer nicht bereit ist, dem Immo-Specki Swiss Life städtisches Land in den Rachen zu werfen, gleich auch zum Feind der Zürcher Kultur gestempelt. Jene dagegen, die im Rat gezeigt haben, dass ihnen die Finanzierung von künstlerischen Inhalten eher egal ist, sitzen jetzt im Pro-Cabaret-Voltaire-Komitee und dürfen sich als Retter*innen von Dada und der Freiheit der Kunst aufspielen. AL und Grüne haben sich im Rat als Einzige diesem erpresserischen Junktim verweigert und für den ungekürzten, nicht an Bedingungen geknüpften Betriebsbeitrag gestimmt.
Kapitulation vor dem «Wirtschafts-Fatalismus»?
Die Spiegelgasse 1 ist ein geschichtsträchtiger Ort und soll das auch bleiben. Auch weil in unseren Augen die Stadtbevölkerung unveränderbare Orte braucht. Leider werden mit dieser „Vogel-friss-oder-stirb“-Vorlage auch die BetreiberInnen des Cabarets Voltaire – so sie nicht vom Spekulations-Virus infiziert sind, was wir nicht annehmen – gezwungen, sich hinter diesen unsäglichen Immobilien-Deal zu stellen und sich ganz dada-a-typisch dem von Hugo Ball kritisierten „Wirtschaftsfatalismus“ hinzugeben. Sie, die sich für den künstlerischen Betrieb eigentlich 250‘000 Franken gewünscht hatten, kriegen im besten Fall gerade genug, um als Nachlassverwalter des Cabaret Voltaire zu fungieren. Von ihnen wird erwartet, dass sie eine gegenwartsbezogene Reflektion des ideellen Dada-Erbes garantieren und Höhenflüge der künstlerischen Freiheit inszenieren, doch sie werden gezwungen, wenige Fingerbreit über dem Boden zu flattern.
Es braucht die staatlich garantierte künstlerische Freiheit. Und künstlerische Leistungen brauchen entsprechende Subventionen. Und natürlich braucht es dafür die nötigen Räumlichkeiten. Fällt der Immo-Deal Stimmvolk durch, muss eine kulturpolitische Vorlage her, die für Dada nicht nur ein Lippenbekenntnis übrig hat.