Der Grossteil der Areale, die heute von der SBB AG schrittweise spekulativ verwertet werden, wurden schon von ihrer privaten Vorläuferin, der von Alfred Escher gegründeten Nordostbahn AG (NOB) erworben oder enteignet. So verkaufte die Stadt Zürich im Gebiet der Europaallee 1858 und 1861 4‘700 m2 Land an die NOB für 4.04 resp. 12.22 Franken pro m2. Für den Landstreifen an der Zollstrasse bis zur Landstrasse bezahlte die NOB zwischen 1855 und 1880 Preise von Fr. 0.89 bis 37.78 pro m², etwa die Hälfte davon wurde enteignet. Für das Neugass-Areal dürfte es eher weniger gewesen sein.
1900, als die Privatbahnen verstaatlicht und in die SBB überführt wurden, kam es zum offenen Streit zwischen Stadt und Kanton Zürich auf der einen und der NOB auf der anderen Seite. Die NOB wollte die nicht bahnbetrieblich genutzten Areale – u.a. das 8 Hektaren grosse Areal der heutigen Europaallee, das nach der Verlegung des Güterbahnhofs freigeworden war – von der Verstaatlichung ausnehmen und für private Spekulationszwecke nutzen.
Mit einer Beschwerde an den Bundesrat und die Bundesversammlung gab Zürich Gegensteuer. Am 31. Oktober 1900 reisten drei Stadt- und drei Regierungsräte nach Bern, um bei Bundesrat Zemp vorzusprechen. Mit vollem Erfolg: Sie setzten die volle Verstaatlichung aller NOB-Areale auf Stadtgebiet durch. Ohne diese Verstaatlichung wäre die Sihlpost nie gebaut worden. Und bei ihrem Bau 1926 trat die SBB das Land für die Verlängerung der Kasernenstrasse unentgeltlich ab und finanzierte die Hälfte der Baukosten der Postbrücke.
Der Wohnanteil-Bschiss
Das war früher. Heute verwertet die SBB AG ihre Ländereien wie ein beliebiger Spekulant – ein Szenario, von dem die private Nordostbahn 1900 vergeblich träumte. Mit dem 2006 trotz Referendum angenommenen Gestaltungsplan wurde für die Europaallee eine massive Aufzonung bewilligt – ohne jede Gegenleistung. „Rund 500 Wohnungen entstehen im Stadtraum HB Zürich“, schrieb der Stadtrat im September 2006 in der Abstimmungszeitung. „Mehr als ein paar teure Luxus-Lofts liegen nicht drin“, konterten wir Gegner damals. Und sollten leider recht bekommen. Statt der versprochenen 500 entstehen bloss 396 Wohnungen, der fehlende Wohnanteil wird in Form von Hotelzimmern im 25-hours-Design-Hotel Ecke Lagerstrasse/Langstrasse „realisiert“…
Exorbitante Mieten und Bodenpreise
Die realisierten Wohnungen sind durchwegs im obersten Preissegment. Die 3.5- und 4.5-Mietwohnungen auf Baufeld E sind für schlappe 4‘900 bis 5‘900 Franken zu haben. Nicht zu reden von den 78 Apartments in der Seniorenresidenz GUSTAV «für exklusives Wohnen im besten Alter», die anfänglich für astronomische 8’500 bis 18’800 Franken pro Monat angeboten wurden. Da der Markt diese Abzocke offenbar nicht schluckt, wird mittlerweile ein Drittel zu deutlich niedrigeren Mieten als «serviced Apartments» vermarktet. Die 46 Eigentumswohnungen auf Baufeld G wurden anfangs 2013 – eine Premiere – an die Meistbietenden versteigert. Daraus errechnet sich ein geradezu obszöner Bodenpreis von 71‘000.- pro m2.
Bereits 2010 hat die SBB in der Europaallee für 26‘931.- pro m2 eine Baulandparzelle an die UBS verkauft und 200 Millionen kassiert. Zum Vergleich: 1 Quadratmeter Boden bringt laut Bauernverband einen Ertrag von 1 Kg Kartoffeln – die SBB hat von der UBS dafür den Gegenwert von 700 Gramm Gold erhalten…
Auf den anderen SBB-Arealen – etwa WestLink und Letzibach C in Altstetten – sieht es nicht viel besser aus.
Private Aneignung von Mehrwert stoppen
Dieser enorme Mehrwert auf den zentralen Filetstücken der SBB ist nur dank Gross-Investitionen und viel Goodwill der öffentlichen Hand entstanden. So hat der Kanton Zürich mit 677 Millionen Franken ein Drittel der Kosten der Durchmesserlinie und des Bahnhofs Löwenstrasse finanziert. Diese private Aneignung von Mehrwert, der mit öffentlichen Mitteln geschaffen worden ist, muss korrigiert werden. Die SBB AG schuldet uns eine Gegenleistung.
Vor 20 Jahren hat der Verein «Verrückt das Viadükt» der SBB im Industriequartier Paroli geboten und das Projekt «Fil rouge» mit seiner quartierzerstörerischen Linienführung verhindert. Unser Wille zum Widerstand und unser Vertrauen in den Erfolg ist ungebrochen. Ein Drittel ist nicht genug – wir wollen 100 Prozent!
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